Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
nicht miteinander ausgekommen und haben sich oft untereinander bekriegt. Das hat die Engländer geärgert, die uns unsere Lebensweise nicht lassen wollten. Sie mögen uns nicht, weil wir ihre Sprache nicht sprechen, ganz anders leben und stolze Krieger sind, so wie ihr. Das jagt ihnen Angst ein. Mein Volk hat ihrem Druck lange widerstanden. Es wollte sich nicht unterwerfen und hat lange gekämpft …«
Er legte eine Pause ein, denn die Erinnerungen überwältigten ihn. Sieg oder Tod! , hörte er in seinem Kopf und sah ein Kind schreiend auf das Schlachtfeld rennen, ein jämmerliches verrostetes Schwert in der Hand.
»Die Engländer glauben, dass sie mein Volk besiegt haben, Niyakwai«, fuhr er mit vor Erregung bebender Stimme fort. »Sie nehmen uns unser Land fort und drängen uns, in andere Länder zu fliehen. Ihr Atem zerstreut unsere Clans in alle Winde wie die Samen des Löwenzahns. Aber die Früchte des Löwenzahns fallen immer irgendwo zu Boden, oder? Und dort, wo sie niederfallen, keimen sie. Und das ist es, was die Engländer uns niemals nehmen können: Die Saat unseres Volkes. Die müsst ihr bewahren, dann wird dies euer größter Sieg sein.«
Nachdenklich schaute Niyakwai auf sein Messer hinunter, das im hellen Abendlicht blitzte. Nach einer Weile steckte er die Waffe weg. Seine Miene drückte tiefe Achtung vor dem weißen Mann aus, der vor ihm stand.
»Dein Rücken trägt die Spuren des Marterpfahls der Engländer, und du sprichst mit der Stimme des Großen Geistes. Durch das Gold des Hollandais’ wird das Blut der Engländer und das unsere vergossen werden. Nichts weiter. Davor müssen wir unsere Kinder schützen, die die Saat unseres Volkes sind.«
Mit einer weit ausholenden Handbewegung bedeutete er den beiden, sie sollten aufbrechen.
»Ich werde die Wachen erst rufen, wenn ihr am Horizont verschwunden seid und der Mond über meinem Kopf steht. Und nun wartet nicht länger!«
»Danke«, sagte Alexander und seufzte.
Über den Baumkronen begann es Tag zu werden, und der Horizont, an dem kein Irokese zu sehen war, färbte sich grau. Tsorihia lag, den Kopf bequem an seine Schenkel geschmiegt, auf dem Boden des Kanus und schlief fest. Alexander, der eine Hand auf seinem Dolch liegen hatte, kämpfte gegen den Schlaf. Immer wieder sackte ihm der Kopf weg, aber er wusste immer noch nicht genau, wer die Männer waren, mit denen er unterwegs war, und was sie mit ihm vorhatten, daher musste er wachsam bleiben.
Sie waren die ganze Nacht gefahren, ohne einen Halt einzulegen. Detroit lag mehrere Tagesreisen entfernt. Nonyacha und Tsorihia hatten stundenlang miteinander gesprochen und Erinnerungen aufgefrischt. Die junge Frau hatte viele Tränen um diejenigen vergossen, die sie verloren hatte, um die, die sie nie wiedersehen und die, die sie bald treffen würde. Doch man konnte sechzehn Jahre nicht in einer einzigen Nacht aufholen.
Immer noch wurde Alexander von seinen eigenen Worten umgetrieben, die er zu Niyakwai gesagt hatte: Dort, wo sie niederfallen, keimen sie . Und auch andere Worte aus den Tiefen seiner Erinnerungen stiegen in ihm auf.
»Alasdair, versprich mir, alles in deiner Macht Stehende zu tun, um das zu bewahren, was deine Vorfahren dir hinterlassen haben. Und wenn ein Tag kommt, an dem du spürst, dass dieses Erbe bedroht ist, dann geh fort. Lass nicht zu, dass sie es dir wegnehmen. Lass dir nicht deine Seele stehlen. Geh nach drüben, nach Amerika. Ich habe sagen hören, das Land sei riesig, und man sei dort frei.«
»Ich will aber Schottland nicht verlassen, Großmutter! Ich bin Schotte und …«
»Schottland ist nicht nur das Land, in dem du geboren bist. Es ist auch und vor allem die Seele seines Volkes, verstehst du? Seine Sprache, seine Traditionen sind in uns verwurzelt. Der Geist, Alasdair, ist das Wichtige, und das wird dich retten. Einmal hat ein Freund, ein Arzt, zu mir gesagt: ›Die einzige Freiheit des Menschen liegt in seinem Geist. Kein Gesetz, keine Drohung, keine Ketten können ihn bezwingen.‹ Er hatte recht: Du allein bist der Herr deiner Freiheit. Die Engländer können unser Feuer nicht einfach mit ihrem bösartigen Hauch löschen. Schottland wankt, aber es wird nicht fallen. Es wird überleben, an einem anderen Ort, wenn es sein muss. Unser gälisches Blut lässt sich nicht so leicht verdünnen. Gewiss, wir werden uns mit anderen vermischen; das ist unvermeidlich und notwendig, damit wir überleben. Aber unser Blut ist stark und muss es bleiben. Der Geist,
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