Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
bieten können. Gestohlene, flüchtige Bilder …
»Hat er Alpträume?«
»Manchmal, wie wahrscheinlich alle Kinder seines Alters.«
»Hmmm … Ist er… glücklich?«
Isabelle spürte, wie ihr Herz sich zusammenzog. Sie erriet, welch schreckliche Leere Alexander erfüllen musste. Da war ein Teil von ihm, zu dem er keinen Zugang hatte. Plötzlich bedauerte sie, ihm an diesem traurigen Tag, an dem sie sich am Flussufer wiedergesehen hatten, nicht gesagt zu haben, dass er Vater war. Dann wäre heute sicher alles anders gewesen. Vielleicht wäre er gar nicht mit dem Hollandais gegangen, und sie beide wären … Aber seitdem waren drei Jahre vergangen. Gabriel war groß geworden, und ihr Zusammenleben mit Pierre war zwar kein Rosengarten, aber doch angenehm. Warum also jetzt alles auf den Kopf stellen? Wieso tauchte er einfach so in ihrem ruhigen Leben auf, um wieder einmal alles durcheinanderzubringen?
»Gabriel ist glücklich, Alex. Die Wahrheit würde ihn viel zu sehr bestürzen.«
Alexander senkte den Kopf und schloss die Augen, um das Bild des kleinen Jungen vor sich erstehen zu lassen und sich vorzustellen, wie er ihn umarmte. Isabelle nutzte die Gelegenheit, um ihn genau zu mustern. Er hatte sich verändert, war älter geworden. Die Züge, die sie hinter seinem dichten Bart erahnte, sprachen von einem harten Leben. Sein Gesicht war jetzt nicht mehr starr, nachdem die Ironie und die Arroganz daraus gewichen waren. Doch sein Mund hatte noch diese natürliche Krümmung, die ihn ein wenig widerspenstig wirken ließ. Trotz der Kraft, die er ausstrahlte, kam er ihr verletzlich vor. Am liebsten hätte sie ihn berührt und wäre mit den Fingern über die neuen Linien in seinem Gesicht gefahren… Sie seufzte. Da sie fürchtete, sie könnte sich dem in ihr aufsteigenden Begehren ergeben, trat sie ein wenig von ihm weg.
Das Rascheln ihrer Röcke ließ Alexander hochfahren. Er hob den Kopf und fuhr sich durch das zerzauste Haar.
»Ich muss nachdenken, Isabelle. Vielleicht… könnte ich ihn als Freund besuchen? Er hat schließlich noch Schulden bei mir.«
»Schulden?«
»Das ist etwas, das nur ihn und mich angeht. Es hat mit einem Apfel zu tun.«
Sie sahen einander an. So viele Dinge, so viele Worte gingen ihnen durch den Kopf. Ihnen war, als hätten sie einander außer ihrem Groll nichts mehr zu sagen. Einmal hatten diese beiden einander mit überschwänglicher Leidenschaft geliebt; aber jetzt waren sie Fremde, nur durch einen kleinen Jungen in alle Ewigkeit verbunden, was auch kommen mochte.
»Ich weiß nicht, Alexander. Du würdest nur unnötig leiden. Und falls Pierre dahinterkommen sollte …«
Sie wollte ihm schon sagen, dass ihr Mann ihn für tot hielt, so wie sie selbst noch bis eben, aber sie überlegte es sich anders. Was war passiert? Was war dem Hollandais und seiner Mannschaft wirklich zugestoßen? War es möglich, dass van der Meer ebenfalls noch lebte? Nein, seine Frau war vergangene Woche gestorben, und er war nicht zu ihrem Begräbnis gekommen.
Während Isabelle sich den Kopf zerbrach, musterte Alexander sie. Ob sie ihn noch liebte? War dieses Begehren, das er in sich aufsteigen fühlte, nichts als ein Relikt, eine Erinnerung an eine einst glühende Leidenschaft? Die weiße Hand der Frau nestelte an der Spitze, mit der ihr Ausschnitt eingefasst war. Er zog die Augenbrauen hoch und runzelte dann die Stirn, als er das Schmuckstück, das sie aus ihrem Mieder zog, erkannte.
Seine Erregung erlosch abrupt. Er trat auf sie zu und hob die Hand, um das silberne Kreuz zu ergreifen. Isabelle wurde sich plötzlich seiner Nähe bewusst und hörte zu atmen auf. Er betrachtete das Kreuz, das er mehr als vier Jahre auf dem Herzen getragen hatte. Dann sah er sie forschend an: Was genau wusste sie über das, was Étienne getan hatte?
»Wer hat dir das gegeben?«, fragte er mit einer Kälte, die Isabelle erschreckte.
»Étienne …«, flüsterte sie.
Er legte die Stirn in noch tiefere Falten.
»Er hat gesagt, du wärest … getötet worden.«
Sein sarkastisches Auflachen beruhigte sie nicht.
»Was hat er dir noch erzählt, Isabelle?«
»Ihr wäret von Wilden überfallen und alle massakriert worden.«
»Was mich angeht, so lebe ich noch, wie du siehst! Aber über die anderen hat er dir die Wahrheit gesagt. Allerdings nehme ich an, er hat sie ein wenig seinen Bedürfnissen angepasst …«
»Was meinst du? Étienne … hat versichert, er sei später an den Ort des Überfalls gekommen und… Was war
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