Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
hoch, als sich ein Knacken von Ästen vernehmen ließ.
»Bestimmt ein Hase.«
Nicht weit entfernt spielte Gabriel mit Otemin. Die Kinder hatten ein Vogelküken gefunden, das auf den Boden gefallen war, und bastelten ihm ein provisorisches Nest. Achselzuckend wollte Isabelle schon zu ihnen gehen, als sie ein Knacken hörte, bei dem ihr die Haare zu Berge standen. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden. Während sie sich prüfend umsah, rief sie ihren Sohn.
»Gabriel, Zeit, nach Hause zu gehen!«
»Ja, Mama. Dü’fen wir den kleinen Vogel mitnehmen?«
War es möglich, dass in diesem Wald tatsächlich ein makwa hauste?
»Ähem … ja.«
Ein Ast vibrierte. Isabelle blieb fast das Herz stehen. Sie hatte wirklich keine Lust, sich noch länger hier aufzuhalten.
»Beeilt euch, Kinder!«
Gabriel und Otemin kamen lachend auf sie zugerannt. Sie schob ihren Sohn in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Der gespaltene Baum , dachte sie und schaute sich fieberhaft nach ihrer Landmarke um.
»Wo ist er nur?«
Mit einem Mal war ihr, als sähen alle Bäume gleich aus, und Dutzende von Wegen schienen in alle Richtungen zu führen. Sie geriet in Panik.
»Marie! Marie! Ich weiß nicht mehr… Wir haben uns verlaufen!«
»Nein, Madame«, stotterte das Mädchen, das jetzt ebenfalls Angst bekam. »Ich bin mir sicher, dass es hier entlang geht …«
»Mama!«
»Gaby! Bleib nicht zurück!«
Als Isabelle sich zu ihrem Sohn umwandte, sah sie, dass er sie merkwürdig anschaute und auf einen Punkt hinter ihrer Schulter starrte. Sie fuhr herum, ließ den Korb fallen und schrie vor Furcht auf.
»Aaah!«
Vor ihr stand ein gewaltiges, haariges und schmutzverkrustetes Wesen, das aus dem Schatten der Wälder aufgetaucht war.
»Verzeihung, Madame. Ich wollte Euch keine Angst einjagen.«
»Ihr wolltet mir keine… Also wirklich!«
Entsetzt starrte sie auf das Jagdgewehr, das auf sie gerichtet war. Der Unbekannte senkte die Waffe und räusperte sich. Dann stieß er einen Pfiff aus, und ein zweiter Mann kam herbei. Er war größer und schlanker als sein Kamerad, hatte sehr dunkle Haut und goldfarbene Augen, die ständig von links nach rechts huschten. Er schenkte ihr ein Lächeln, das wohl jovial wirken sollte. Die Kinder hatten sich an sie gedrängt, und sie hielt ihre kleinen Hände fest in ihren. Sie war bereit, die Flucht zu ergreifen.
»Wer seid Ihr, und was habt Ihr hier zu suchen?« »Ich bin Stewart MacInnis«, erklärte der erste Mann, »und das hier ist mein Bruder Francis.«
»MacInnis? Ihr wollt Schotten sein? Wenn man Euch hört, möchte man es nicht glauben.«
»Ich bin in Schottland geboren, aber großgeworden bin ich auf Antigua.«
»Antigua?«
Das hätte seinen merkwürdigen Akzent und die dunkle Haut des Mannes, den er als seinen Bruder bezeichnete, erklärt.
»Mir will scheinen, dass Ihr sehr weit von zu Hause entfernt seid, Monsieur MacInnis!«, meinte sie zynisch. »Habt Ihr Euch etwa verlaufen?«
»Wir sind erst vor zwei Monaten hier angekommen. Unsere Mutter ist vergangenen Sommer an Gelbfieber gestorben, und da haben wir die erste Gelegenheit ergriffen, um unserem Sklavendasein zu entkommen. Wir hatten gehofft, in Québec …«
Die Mienen der jungen Männer brachten ihre Enttäuschung deutlicher zum Ausdruck als Worte. Eine Dreckschicht und lange Bärte verbargen ihre Gesichter. Isabelle war sich nicht sicher, mit was für Menschen sie es zu tun hatte. Sie tat, als wolle sie ihren Korb aufheben, steckte die Hand unter die Serviette und ergriff das Messer. Dann zog sie es deutlich sichtbar hervor.
»Geh mit den Kindern vor, Marie! Sag Alexander und Munro, dass wir auf sehr merkwürdige … makwas getroffen sind.«
»Aber die beiden sind doch …«
»Geh, mach schon!«
Die junge Mohawk-Frau sah die Miene ihrer Herrin, gehorchte sofort und zerrte die Kinder hinter sich her. Erleichtert wartete Isabelle, bis sich das Protestgeschrei ihres Sohnes entfernt hatte, und wagte dann, sich zu rühren. In einem, wie sie hoffte, selbstbewussten Ton wandte sie sich erneut an die Unbekannten.
»Macht Euch davon! Geht weg und lasst uns in Ruhe!«
»Ich versichere Euch, Madame, dass wir Euch nichts Böses wollen.«
Belustigt musterte Stewart das kleine Küchenmesser. Er setzte sein Gewehr mit dem Lauf nach unten zwischen seine Füße, stützte sich auf den Kolben und enthüllte eine Zahnreihe, die in seinem grauen Gesicht erstaunlich weiß wirkte. Isabelle wurde plötzlich bewusst, wie
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