Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
Isabelle hatte das Haus geschlossen und war, wie ihre Dienerin erklärte, mit einem Verwandten abgereist. Jacques Guillot wusste auch nicht mehr über die Identität des Mannes, der Isabelle und Gabriel abgeholt hatte. Immerhin hatte sie zwei beruhigende Briefe erhalten, die im Handelsposten Deux-Montagnes aufgegeben worden waren und in denen Isabelle ihr versicherte, alles sei in Ordnung. Vieles blieb jedoch rätselhaft.
Madeleine nahm ihre Tasche und ihren Korb und schaute nach oben. Der Himmel war strahlend blau und die Luft trocken und mild. Ein herrlicher Tag. Sie schickte sich an, den Marktplatz zu überqueren, der wie immer am Freitag vor Menschen wimmelte. Während sie ihr Mieder und ihr Schultertuch zurechtrückte, sah sie schon das Schild der Bäckerei Lacroix vor sich und versprach sich ein schönes Brioche, das sie auf dem Rückweg knabbern würde.
»Einen wunderschönen guten Tag, Madame Gosselin!«, wünschte ihr eine alte Frau, die einige Stück Geflügel schleppte.
»Guten Tag, meine liebe Roseline. Hähnchen zum Abendessen, wie ich sehe?«
»Vor Euch kann man wirklich nichts verbergen! Der Herr hat zehn Gäste eingeladen, und die kleine Catherine Michel hütet das Bett. Merkwürdigerweise wird dieses kleine Luder immer krank, wenn es besonders viel Arbeit in der Küche gibt. Schade, dass Ihr die Stelle nicht wollt!«
»Ich möchte meine Insel nicht verlassen, Roseline«, erklärte Madeleine zum tausendsten Mal, obwohl sie wusste, dass die alte Frau sie nur aufziehen wollte. »Macht Euch keine Sorgen! Wenn ich einen reichen Mann habe, verspreche ich, Euch zu mir zu nehmen und Euch bei der Arbeit zu helfen!«
»Dann beeilt Euch aber, meine Schöne! Ich werde alt, und bald wird man mich mit dem Löffel füttern müssen!«
»Ihr und alt? Also, so etwas! Ihr …«
Madeleine unterbrach sich abrupt und zog die Augen zusammen. Ganz bestimmt hatte sie sich getäuscht.
»Fühlt Ihr Euch nicht wohl, Madame Gosselin?«
»Ähem … doch«, gab sie zurück, ohne den roten Haarschopf aus den Augen zu lassen. »Ich wünsche Euch viel Glück mit Euren Hühnern.«
Die Abschiedsworte Roselines, die von der Menge davongetragen wurde, gingen in dem lärmenden Treiben unter. Madeleine stand wie angewurzelt da und starrte die vertraute Gestalt an. Nein, sie träumte nicht. Er war es wirklich. Sie verstand nicht warum, aber ihr Herz begann schneller zu schlagen. Vergangene Ereignisse stiegen in ihr auf. Die schmerzliche Erinnerung an Juliens Tod und das Bild ihres zerstörten Hauses versetzten sie in kalten Zorn; sie hatte damals alles verloren und bei ihrem Onkel Charles-Hubert unterkriechen müssen…
Sie ignorierte die Passanten, die sie anstießen, und stand regungslos da, während der hochgewachsene Mann in ihre Richtung kam. Ihre Tasche glitt ihr aus der Hand und fiel vor ihren Füßen zu Boden. Sie bückte sich, um sie aufzuheben, als jemand darauf trat. Lebhaft fuhr sie hoch.
»He, könnt Ihr nicht schauen, wohin Ihr tretet?«
»Sorry, Ma’am. I was distracted … May I help?«
»Verfluchter Engländer! No, Sir. Thank you.«
Ihre kurze Beziehung zu Mr. Henry war ihr zumindest in einer Hinsicht nützlich gewesen: Sie hatte Englisch gelernt und sprach es inzwischen einigermaßen gut. Doch über alles andere war sie verbittert. Nach dem Ball im Château Saint-Louis hatte der junge englische Offizier sie in seine Wohnung eingeladen. Wie er sagte, wollte er ihr seine neuen Bände über die Tierwelt Afrikas zeigen, die er frisch aus England erhalten hatte. Er hatte ihr von den Elefanten erzählt und ihr die Unterschiede zwischen den Arten, die in Afrika und die in Asien lebten, erklärt, und dann von den Löwen gesprochen…
Sie war ein wenig angetrunken und melancholisch gewesen und hatte sich ins Schlafzimmer ziehen lassen. Während sie in dem Buch blätterte, hatte er ihr über die Schulter gesehen und Bemerkungen über die Bildtafeln abgegeben. Seine Hände waren über ihre Taille, ihre Lippen, ihren Nacken geglitten. Sie war erschauert. In diesem Moment hätte sie ihm Einhalt gebieten müssen, aber sie hatte nicht die Kraft dazu gehabt. Während er sie auf die merkwürdige Ähnlichkeit zwischen dem Schimpansen und Leutnant Miller hinwies, hatte Mr. Henry den seidigen Stoff ihres Kleides liebkost und sich bis an ihre Brust vorgewagt. Dann hatte er erläutert, dass eine Schlange ein ganzes Schaf verschlingen konnte, ohne auch nur zu kauen, und langsam ihr Mieder aufgeschnürt. Empfindungen, die sie
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