Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
Die Stimmung war ruhiger als am Vorabend. Nur gelegentlich drangen ein Lachen oder Gesprächsfetzen zu ihnen herüber. Mehrmals schlug der Hollandais schimpfend sein Steinschlossfeuerzeug an, bis schließlich die Flamme aufsprang, sein Gesicht erhellte und Bart und Augenbrauen mit einem goldenen Schein übergoss. Er zündete seine Pfeife an und tat einen tiefen Zug, den er langsam wieder ausstieß.
»Die Zeiten ändern sich, aber der Mensch bleibt immer der gleiche. Der Mensch … die schönste Schöpfung Gottes, findet Ihr nicht?«
»Nein, Monsieur, dieser Meinung bin ich nicht.«
»Killie, Alexander.«
»Im Moment würde ich lieber ›Monsieur‹ sagen, falls Ihr nichts dagegen habt.«
Der Hollandais sah ihn einen Augenblick lang an. Dann bebte sein Bart, und sein Schnurrbart zog sich in die Breite.
»Einverstanden. Dann habe ich also unrecht … und Ihr habt recht. Der Mensch ist die furchteinflößendste Kreatur auf Erden. Natürlich gibt es Königstiger, Alligatoren, Klapperschlangen und Wölfe … alles Tiere, vor denen sich Kinder bei Nacht fürchten. Aber diese Tiere werden von ihrem Instinkt geleitet. Sie töten, um zu fressen oder ihre Jungen zu schützen. Für sie geht es ums Überleben, nichts weiter. Sie fallen nur über Euch her, wenn Ihr ihnen im unrechten Moment begegnet. Beim Menschen ist das etwas anderes. Wenn sein Überleben gesichert ist, muss er sich um seine Seele kümmern. Er sucht nach einem gewissen Wohlbefinden. Aber manche Menschen, die enttäuscht worden sind, neigen leider zum Laster, zur Perversion und zur Grausamkeit. Schließlich finden sie ihr Glück darin, anderen Leid zuzufügen. Was macht Euch glücklich, mein Freund?«
Verwirrt schwieg Alexander. Was machte ihn glücklich? Wusste er es überhaupt? Er versuchte, sich an Augenblicke zu erinnern, in denen er glücklich gewesen war. Isabelles Gesicht tauchte vor ihm auf, doch er schob es sofort beiseite. Dann sah er einen Sternenhimmel, über den sich das luftige Band der Milchstraße zog. Er erblickte ein Haferfeld, das im Wind wogte, und eine Frau, die einen Korb unter dem Arm trug. Ein kleiner Hund sprang neben ihr umher: seine Mutter und sein Hund Branndaidh. Und schließlich John, wie er ihn im Loch nass spritzte, schallend lachte und sich in das eiskalte Wasser warf.
»Alles, was mich glücklich macht, ist unerreichbar für mich …«, stammelte er und schlug die Augen nieder.
»Wir glauben, dass alles, was unerreichbar für uns ist, uns glücklich machen würde. Aber es muss doch auch Dinge geben, die Euch glücklich machen und die Euch zugänglich sind, oder?«
Der abgegriffene Schaft seines Dolchs blitzte auf und zog Alexanders Blick auf sich, und er dachte an den alten Priester O’Shea und seine weisen, lange vergessenen Worte: Wir müssen unsere Gaben einsetzen, um Vollkommenheit zu schaffen und sie zu betrachten. Eine Tätigkeit, die den Geist beschäftigt und alle Sorgen vertreibt, die das Auge dazu bringt, die Schönheit zu bewundern, die … ja, glücklich macht, und sei es nur einen Moment lang. Mit den Fingerspitzen strich der junge Mann über die verschlungenen Muster des Griffs, deren Details inzwischen durch den Gebrauch verblasst waren.
»Gelegentlich schnitze ich gern.«
»Das ist gut, das passt zu Euch. Und was ist mit Geld und Macht? Führen sie Euch nicht in Versuchung?«
»Was Geld angeht, so besitze ich kaum welches, Monsieur. Und Macht ist mir gleichgültig.«
»Aber was würdet Ihr tun, wenn ich Euch beides anbieten würde?«
Verblüfft runzelte Alexander die Stirn. War das eine Falle? Steckte ein verborgener Sinn in der Frage des Hollandais’?
»Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht, Monsieur. Ich glaube, ich würde mir ein Stück Land kaufen.«
»Und Ihr würdet ein schönes Haus darauf bauen, Euch Rassepferde und bequeme Kutschen kaufen und Dienstboten anstellen …«
Alexander fragte sich wirklich, worauf der Pelzhändler hinauswollte.
»Monsieur, ich habe in meinem Leben noch nie etwas besessen. Bis heute habe ich nur durch meinen Mut, meinen Stolz und … wenn ich das sagen darf, durch meine Intelligenz überlebt. Ich bitte Gott nur um Frieden. Alles, was ich will, ist, keine Waffe mehr führen zu brauchen, um den nächsten Tag zu erleben. Ich nehme, was man mir gibt, und versuche nichts zu erlangen, was das Schicksal mir nicht über den Weg schickt. Das ist die Lektion, die ich aus meinem Leben gezogen habe.«
»Sich dem Geschick zu unterwerfen und seine Endlichkeit zu
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