Hikikomori
Glieder in alle Himmelsrichtungen. Es sind ulkige, mir auf Anhieb sympathische Namen wie Vogel1, Miezekatze94, Pwnsauce, NachtWaechter, tussipussi oder Piddybaby . Sogar ein lutz_kettenschutz hat den Weg zu uns gefunden und betrachtet seine neuen Hände. Einzeln lade ich sie zu mir auf den Brokkoli ein, damit sie neben mir auf der Bank Platz nehmen. Lutz_kettenschutz , dem eine Vogelfeder im Haar steckt, fragt mich, wohin er denn gehen, wo in Welt 0 er sein Lager aufschlagen solle. Ich frage zurück, ob es denn einen Unterschied macht, wohin er aufbricht. Er betrachtet die hügelige Landschaft. Ich frage weiter, ob es denn eine falsche Richtung überhaupt geben kann, wenn es keinen mehr gibt, der das bewertet. Jetzt blickt er verstohlen zu Boden. Ich sage: Richtig und Falsch existieren nicht mehr. Du machst etwas, und wenn es dir gefällt, machst du es weiter. Und wenn nicht, dann beginnst du etwas Neues.
Die Neuankömmlinge orientieren sich rasend schnell, eine kurze Einführung genügt, schon schichten sie Blöcke zu mehrstöckigen Häusern, legen Gemüsegärten und Komposthaufen an, halten sich Kühe und Schweine, manche sogar ein Rudel wilder Zombies. Sie streben nach Fortschritt, ganze Zeitalter werden in Sekundenbruchteilen durchschritten. Meine Wohnstätte ist bei weitem die rückständigste, aber ich genieße diese Einfachheit. Die anderen haben bereits Whirlpools und TV -Flatscreens gerendert und importiert, überlegen, wie die Haptik verbessert, wie Wasser vom Meer zu den Häusern geleitet oder wie aus der schnellen Tag-Nacht-Abfolge, also aus der schnellen Erdumdrehung, Energie gewonnen werden könnte. Ein Junge ist dabei, seine alte Schule maßstabgetreu nachzubauen, nur um sie danach in alle Einzelteile zu zerlegen. Ein Mädchen lebt im Inneren eines Rubik’s Cubes, eines drehbaren Zauberwürfels, den sie jeden Tag aufs Neue nach den Farben sortiert, sich von Mal zu Mal an Schnelligkeit übertrifft. Ein älterer Herr mit Namen Illustrissimi , einem langen grauen Mantel und einem Bart, der ihm bis zu den Füßen reicht, hat in der Mitte eines anfangs niedrigen Turms einen Kaktus gepflanzt, der Tag für Tag mehrere Meter wächst, so dass er in regelmäßigen Abständen auch den Turm um mehrere Stockwerke erhöht. Es wird berichtet, dass im Tal sogar eine Krankenstation gebaut worden sei, auch wenn ich nicht weiß, welchem Zweck die hier dienen sollte.
Weil es stetig kälter wird, habe ich mir aus Schafswolle einen dicken Pullover gestrickt, der auf der nackten Haut kratzt. Die Neuankömmlinge freuen sich unheimlich, wenn ich die Sprossen des Brokkolibaumes hinuntersteige und sie willkommen heiße. Sie strahlen und lachen, als wären sie Kinder, deren Arme und Hälse sich nach vielen verregneten Wintern wieder nach den ersten Schneeflocken strecken können, und lange pressen wir unsere Körper fest aneinander. Wir sind da! , jubeln sie.
Die Hochebene ist inzwischen zu einer Art Marktplatz geworden. Hier werden Ressourcen gehandelt, hier wird unter blinkenden Glühwürmchen bei Nacht getanzt, bis man schweißnass denjenigen gefunden hat, der einem beim Sonnenuntergang am Lovina-Beach den Lendenbereich krault. Viele, die keinen abbekommen, muss man davon abhalten, den Suicide-Wald aufzusuchen. Es wird getuschelt, dort gäbe es Treppen, die man endlos hinaufsteigen könne, ohne jemals an ein Ende zu kommen, oder man stehe in Schlangen an, die niemals kürzer werden. Wer dort hineingeht, kehrt nie wieder zurück. Da Welt 0 aber nach dem Spawnen keinen Tod kennt, bedeutet der Suicide-Wald nicht das Ende der eigenen Existenz, sondern schlicht das Erlöschen aller Wünsche und Triebe bis in alle Ewigkeit.
Die eigentliche Attraktion hier ist aber das Tier . Besser gesagt sein Ebenbild, um das herum die Neuankömmlinge scharenweise sitzen. Das Tier wirkt noch einen Tick prächtiger als im Zimmer, drüben auf der anderen Seite. Beinahe lebendig. Wir alle wirken prächtiger, wahrer. Beharrlich warten alle darauf, dass es etwas sagt. Und dann ist es so weit: die grün leuchtende Leguan-Statue rollt mit den Augen, die Neuankömmlinge schlagen die Hände vor Freude zusammen, fappieren nennen sie das. Es öffnet den Mund und schnalzt ein Irigrginrgringirn. Nur ich weiß, dass es drüben sitzt und auf der Tastatur herumkratzt. Die Neuankömmlinge fappieren und johlen, die ersten versuchen sich in Deutungen. Vorneweg ein Junge mit dem Namen affeohnewaffe , der keine Sekunde von der Seite der Statue weicht, sich sodann
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