Hilf mir, Jacques Cousteau: Roman (German Edition)
nicht mehr mit Mama telefoniert.«
Aber in Mums Familie gibt man kein Geld für Anrufe aus, sondern spart es lieber für einen Besuch. Deshalb bekommen wir ihre Eltern nie zu sehen. Für die Mutter meiner Mutter kann ein Ferngespräch nur eins bedeuten: Jemand ist gestorben. Dagegen weiß man nie, wann jemand aus der Familie meines Vaters zur Einfahrt hereingeschlendert kommt, ohne Geschenk, ohne Vorwarnung, ohne konkrete Aufbruchspläne. Es ist schon passiert, dass wir nach Hause kamen und einen Verwandten in der Badewanne vorfanden – oder meinen Großvater im Schlafzimmer meiner Eltern, beim Durchwühlen der Kommode.
Mum, die auf dem Land aufgewachsen ist, hat mir einmal erzählt, sie sei als kleines Kind über die Felder gelaufen, immer weiter, bis sie so winzig war, dass keiner sie mehr sehen konnte. »Für mich war es das Allerschönste«, sagte sie, »wenn ich einfach meine Ruhe hatte, irgendwo auf einer Wiese oder unter Bäumen, wenn niemand auf der Welt wusste, wo ich war.«
Das alles fällt mir zu meiner Mutter ein, die hier mit uns allen geschlagen ist, mit unseren Geschichten und Flunkereien und faustdicken Lügen, mit unserem mühsamen Gestolper durchs Leben. Und heute heiratet Bishop, einfach so. Bishop und seine neue Frau, Auntie Odelia, die hysterisch herumschreit, knietief im Schnee; eine Limousine im Graben; meine arme Mutter unter Schock.
Wir hasten im Schnee die kurvige Straße entlang, einer bunten Mischung von Bonbons gleich, eingewickelt in Glanzpapier mit gerüschten Enden. Andrew zupft an seinem schlotternden blassblauen Anzug herum; er sieht darin aus wie in einen Sack gebunden. Mein Vater und ich haben ihn nach dem Frühstück in die Ecke getrieben und dem heulend um sich Schlagenden die Hose übergestreift. Als er die einmal anhatte, war er willenlos wie ein Pferd nach dem Zureiten, ließ sich die Jacke anziehen, den Kragenknopf zuknöpfen und die kleine Krawatte umbinden. So verzurrt, stand er in der Diele und funkelte uns zornig an.
In der Kirche suchen wir nach einer Möglichkeit, unsere Mäntel aufzuhängen, und ich sehe gleich ein Möbel, das nach einem kleinen Wandschrank aussieht.
»Schaut mal, da!«, sage ich und bin schon unterwegs, als mich mein Vater am Oberarm packt.
»Das ist ein Beichtstuhl «, flüstert er.
Die Hochzeit wird in aufgeregter Hast abgewickelt, beginnt mit dahingestümperter Orgelmusik und endet damit, dass die Braut weiche Knie bekommt, in Ohnmacht fällt und ihr Gelübde schließlich auf dem Boden liegend zu Ende spricht. Der Brautstrauß explodiert im eisigen Wind, so dass nur Stiele übrig bleiben, die die Braut nach hinten über die Schulter wirft, Mrs. Furstall direkt ins Auge, an der, meint mein Großvater, die Verheißung einer baldigen Heirat eindeutig verschwendet ist. Weiter geht’s in schwindelnder Eile, bis die Hochzeit gnädig vorüber ist und die Leute in der Dunkelheit nach Hause fahren, die Krawatten lockern, die Schuhe von den Füßen schleudern.
Meine Mutter sitzt aufrecht am Steuer, mit weit geöffneten Augen, die weiß im Rückspiegel leuchten. Mein Vater schläft, wie er auch den Gottesdienst, den alkoholgeschwängerten Empfang, den schrillen Wortwechsel zwischen Großvater und Odelia, die hinausstürmende Braut und Mrs. Furstalls abschließendes ätzendes Urteil über unseren Familiencharakter verschlafen hat. Nun sind wir auf der Rückfahrt, die Scheinwerfer ziehen eine müde Spur durchs Dunkel, und als wir hinter unserem Haus halten, lässt meine Mutter den Kopf nach hinten auf die Lehne der breiten Sitzbank sinken; die Deckenleuchte scheint ihr schwach ins Gesicht. Wir überlassen sie ihren Gedanken, welchen auch immer, sind selbst innerlich unruhig und wollen fort. Dad trägt Andrew ins Haus – der tief schlafende Junge ist in seinem schlotternden Anzug so glitschig wie ein Fisch in einer Plastiktüte –, und dort, auf unserem Sofa, liegt Bishop, der Bräutigam, im Smoking, der sich an seinem Hochzeitstag bis zur Bewusstlosigkeit betrunken hat.
Bevor ich Bishop entdecke, sehe ich das Gesicht meines Vaters. Ich glaube, ein solches Gesicht macht man einen Sekundenbruchteil vor einem Unfall. In diesem Moment zeichnet sich deutlich die Zukunft vor mir ab, ich erkenne ihre Gestalt, ihr ungestümes, trügerisches Versprechen, und wie sie immer ganz in meiner Nähe gewartet hat.
Bigfoot
Mein Großvater steht da, im Morgenmantel, den er seine »Rauchjacke« nennt. Sie ist über und über mit Gewehren, Hunden und panisch
Weitere Kostenlose Bücher