Hilf mir, Jacques Cousteau: Roman (German Edition)
richtig anzuziehen, bevor er ihr unter die Augen kommt. Natürlich hätte sie nichts zu ihm gesagt. Das wäre auch nicht nötig gewesen.
Meine Großmutter steht am oberen Ende der Treppe, die Hände in die Hüften gestemmt. »Dein Vater hat das Haus recht ordentlich verkabelt.«
Andrew und ich glotzen sie nur an. Das war das Unglaubwürdigste, was sich in unserem Haus sagen lässt. Mein Vater verlegt Stromkabel, wenn er nervös ist, und in letzter Zeit ist er sehr nervös gewesen. Mir kommt der Gedanke, dass meine Großmutter meinem Vater nicht nur das Kochen und Nähen, sondern auch einiges Heimwerker-Basiswissen beigebracht hat.
Das Essen riecht lecker, und wir setzen uns alle zu der köstlichen Mahlzeit an den Tisch, die Andrew zubereitet hat. Er schöpft am Kopfende die Suppe in die Teller, säbelt an dem Hähnchen herum und reicht wunderschön weiße, wellige Scheiben weiter. Er rührt die Sauce um und verteilt Bohnen und Kartoffeln. Es ist das Beste, was wir seit Langem gegessen haben, und ich gehe mit einem neuen Gefühl der Hochachtung für meinen Bruder zu Bett.
Wie üblich machen meine Träume unter mir wilde Bocksprünge. Manchmal nimmt man im Schlaf alles wahr: die Tatsache, dass man träumt, den Raum ringsum, die bizarre Logik der eigenen Träume. Ich höre, dass Andrew atmet, wie erschöpfte kleine Jungen eben atmen. Ich merke, wie mein Großvater durch den Flur schleicht, und gleichzeitig jagt mir der Fußboden unter meinem Bett Angst und Schrecken ein, denn er bläht sich auf und schnauft wie ein lebendes Wesen. Ich weiß, dass ich bald aus dem Bett fallen und sehen werde, um was für ein Geschöpf es sich handelt, so deutlich, wie ein Insekt einen Schuh sieht. Aber während das Bett ins Nichts versinkt, wird mir bewusst, dass ich wach bin. In den Bäumen vor dem Fenster sitzen schon die Vögel; eine schwache gelbe Sonne sickert durch die Vorhänge. Ich setze mich auf und starre meinen Bruder an, der klein, niedlich und ruhig daliegt.
Mir geht schon lange die seltsame Idee im Kopf herum, dass er und ich in der falschen Reihenfolge geboren sind. Er hätte zuerst und als Mädchen geboren und meiner Großmutter übergeben werden sollen, die sich immer eine Tochter gewünscht, aber nur Söhne bekommen hat. Mein Bruder hätte ich sein sollen. Und ich hätte später und als Junge geboren werden sollen.
Jahre später, wenn mein Bruder zu einem muskelbepackten, bärtigen Riesenkerl herangewachsen ist und in einem Laster davonfährt, um aufs College zu gehen, wird mir diese Idee absurd vorkommen. Aber im Moment erscheint sie mir erschreckend stimmig. Meine Eltern sind weg und kreisen in einer fernen Umlaufbahn, hinaufkatapultiert von Kräften, die sich unserer Kontrolle entziehen, und meine Großeltern vagabundieren mit ihren eigenen verwirrenden Verhaltensmustern durch unser Leben. Wie es wohl wäre, dieses andere Leben? Ich lege mich wieder hin, beobachte, wie die Sonne über die Zimmerdecke wandert, und male mir aus, wie dieses Leben aussehen könnte; es fällt mir überhaupt nicht schwer, mir vorzustellen, ich sei ein Junge. Ich rede mir nicht ein, dass es dann besser wäre. Ich habe überhaupt keine Meinung dazu.
Fische sitten
Mein Bruder spricht nicht mehr. Er liest jetzt nur noch, liest Kinderbücher, Bücher für Erwachsene, Zeitungen, alles, was auf Müslikartons und Medikamentenschachteln steht, Hinweisschilder, Werbeplakate und Gekritzel auf dem Gehweg. Im Lesen ist er der Klassenbeste, aber zum Reden bringt ihn niemand mehr. Im Moment liegt er bäuchlings auf dem Wohnzimmerteppich, und ich sehe ihn an.
»Was liest du denn da, Andrew?«, frage ich. Aber er hält bloß sein Asterix hoch.
Ich setze wieder das Fernglas an und spioniere weiter die neuen Nachbarn aus. Mrs. Draper, die neue Nachbarin, sitzt draußen in ihrem Garten auf dem Rasen und trinkt etwas mit einem Mann, der nicht der ihre ist. Haargenau wie die vorige Nachbarin. Meine Mutter meint, es liege vielleicht an dem Haus, vielleicht steige aus dem Fundament ein Gas auf, das den Leuten den Kopf verdreht. Sie ist überzeugt, dass Mrs. Draper mit diesem Mann eine Affäre hat, und es sieht so aus, als hätte sie recht. Mrs. Draper hat den Fuß auf den Schenkel des Mannes gelegt und wirft den Kopf zurück, dass ihr entblößter Hals in der Sonne leuchtet. Der Mann massiert ihren Knöchel und fasst ihr ans Bein. Er sitzt mit dem Rücken zu mir, aber unter seiner Baseballmütze und auf seinem Unterarm sehe ich rote Haare. Er beugt sich
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