Hilf mir, Jacques Cousteau: Roman (German Edition)
in der Familie der Reihe nach durch, bis er bei meinem anlangt.
Meine Mutter hat dagegen einen Trick auf Lager. Sie fordert mich auf: »Nenn mir ein Wort, irgendeins, und mir fällt ein Lied ein, in dem es vorkommt.« Manchmal ruft sie mich mitten in der Nacht an und sagt: »Ich hab’s! Ein Liedchen über eine Eisenwarenhandlung, und da kommt das Wort Tülle drin vor.« Sie erinnert sich an den kompletten Text und singt mir das ganze Lied vor.
Als ich noch kleiner war und meine Eltern noch zusammenlebten, hängten ein paar größere Jungs Mark Wilson an der Unterhose an einen Zaun. Mark war ein kleines Ekel, aber diese Kerle hatten ihn tief beschämt und verletzt; er hing eine ganze Weile da, bis wir ihn fanden. Die meisten seiner Kleider lagen auf dem Gras, tief unter seinen strampelnden Füßen. Wir waren zu klein, um zu ihm hinaufzureichen, deshalb rannten wir zu mir nach Hause und holten meinen Dad. Als Mum fragte, was los sei, sagten wir: Ach, nichts. Sie stand da und sah zu, wie wir meinen Vater an den Fingern packten und hastig in den Park zerrten. Dad hob Mark herunter, und der Junge rannte sofort heulend davon, seine Kleider an sich gepresst.
In vieler Hinsicht bin ich morbid und immer bereit, das Schlimmste von anderen Menschen anzunehmen. Ich frage mich, ob so ein Erlebnis – wenn man als kleiner Junge gedemütigt wird – in einem Menschen haften bleibt und ihn schleichend verändert. Ich lese von den Zeitungen immer erst die Titelseite, alles über Gewalttaten und Blutbäder. Ich schmökere in Mörder-Enzyklopädien herum, und es sieht so aus, als hätte jeder ein kleines Trauma, eine seltsame Kindheit oder sonst etwas erlebt, das in ihm gewachsen ist wie ein böser Same. Ich lese diese Bücher beim Schlafengehen und habe dann Träume, in denen ich erschossen werde; mein letzter Gedanke ist immer: »O Scheiße!«
Mark Wilson ist jetzt erwachsen, er ist nach Thailand gegangen. Meine Mutter glaubt, dass er sich einer Sekte angeschlossen hat, aber ich wette, er ist Buddhist geworden. Mein Vater erinnert sich nicht an ihn, weiß nicht mehr, wie er einmal einen Jungen in Unterhose vom Zaun gelupft hat. Dad ist fast so schlimm wie ich. Wenn ich von Mum nach Hause wanke, trunken von meiner eigenen Geschichte, teste ich alles an ihm aus. Aber er ist nie die kleinste Hilfe. Und wenn zum Beispiel die Nachbarn ihm einen Bandschleifer oder ein Verlängerungskabel zurückbringen, dann hält Dad die Sachen in der Hand wie ein unerwartetes Geschenk.
»Ist das meins?«, fragt er.
»Na gut«, fährt meine Mutter fort, »erinnerst du dich, als deine beste Freundin, wie heißt sie gleich, weggezogen ist und du den ganzen Sommer nichts zu tun hattest und ich dich am liebsten erwürgt hätte?«
Daran erinnere ich mich allerdings; ich weiß noch, wie mich die Briefe des Mädchens verstörten, weil sie klangen wie von einer viel Jüngeren geschrieben. Ich erinnere mich, wie frustriert und gelangweilt ich war, wie ich meine Mutter angeschrien habe, die rot vor Wut wurde. Später saß ich dann, wie häufig in diesem Sommer, heulend in der Badewanne, bei offenem Fenster, durch das die kühle Luft hereinwehte. Einmal stand ich auf, stellte mich schluchzend ans Fensterbrett und spritzte mit den Füßen herum. Genau in diesem Moment schlurfte Mr. Whitnell auf dem Gehweg vorbei. In Hausschuhen, ohne Schlafanzugjacke. Ich sah ihn vorbeiziehen, spindeldürr, die hagere Brust roh wie ein gerupfter Kapaun. Er zischte vor sich hin. Ich erwartete, dass ihm jemand nachlaufen würde, aber niemand kam. Dann hörte ich kleine Klatschgeräusche, als schlüge er mit dem Stock auf einen Laternenpfahl ein. Schließlich schlurfte und zischte Mr. Whitnell wieder in die andere Richtung.
»Ich wusste, dass du dich an ihn erinnerst, wenn du dich anstrengst«, triumphiert meine Mutter. »Um diese Zeit verlor er die Stimme, und sein Zustand verschlimmerte sich stark, da brachten sie ihn weg. Der arme alte Kerl, seine Schwester hat ihn einfach aufgegeben. So ist das mit der Verwandtschaft.«
Mum ist zufrieden, aber ich habe immer noch kein Bild von Mr. Whitnells Gesicht vor Augen. Es ist, als hätte ich diese Geschichten nur gehört und bildete mir nur ein, dass ich dabei war. Das alles macht mir manchmal schwer zu schaffen. Dann fühle ich mich wie ein Alien, der in dieser Familie abgesetzt wurde, während mein wahres Ich mit allen seinen Erinnerungen irgendwo anders ist, verloren gegangen.
Ich kehre von Mum nach Hause zurück, setze mich zu
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