Hilfe, die Googles kommen!
Bekenntnissen in Sachen Hauskredit, seinen dubiosen Kontakten zu Wirtschaft und High Society und dem Mailbox-Angriff auf Bild -Chef Kai Diekmann obendrein auch wirklich jede mikroskopisch kleine Anekdote oder Begebenheit aus seinem Leben in epischer Breite online aufgefächert wurde. Bald wusste man über den Bobby-Car-Fuhrpark von Schloss Bellevue ebenso Bescheid wie über die mystische Bedeutung der Tätowierung seiner Frau und die dubiosen Umstände, unter denen Kochbücher von seinem damaligen Sprecher Glaeseker an die Niedersächsische Landesregierung verhökert wurden. Man wartete förmlich darauf, dass investigative Journalisten ehemalige Kindergarten- und Grundschulfreunde von Wulff ausfindig machen würden, die bestätigten, dass er mal bei »Fang den Hut« beschissen und anno 1962 auf einem städtischen Spielplatz in Osnabrück etliche Sandkuchen mit fremden Förmchen gebacken hat. Die alte Regel »Wo Rauch ist, ist auch Feuer« wird zunehmend zu: »Auch wo kein Feuer ist, muss es rauchen.«
Als im September 2012 kurioserweise kurz hintereinander Fliegerbomben in München, Viersen, Oberhausen und Hamburg gefunden wurden, explodierten Tausende von Artikeln ins Netz. Diese vermittelten dem hilflosen Leser neben der Kerninformation »Fliegerbombe gefunden« auch noch ausschweifende Informationen zu Technik des Zünders, Sprengkraft der Bombe, Bombentypen, dem Vorgehen bei Entschärfungen, dem Prozedere bei Sprengung und die beunruhigende Botschaft, es lägen noch »unzählige« Geschosse in Deutschlands Böden. Ich habe in dieser Zeit so viel über Fliegerbomben gelesen, dass ich mir mittlerweile zutraue, einen chemischen Zünder eigenhändig zu entschärfen. 133 In Anbetracht der Tatsache, dass ich regelmäßig in München, Hamburg, Oberhausen und am Niederrhein spiele, ist das vielleicht auch gut so. Seit diesem »Bombenseptember« trete ich in diesen Städten zwar immer noch auf, allerdings nicht mehr ganz so fest wie früher. Die Panikbombe, die als Blindgänger in meinem Verstand lag, ist letztendlich explodiert.
Es wirkt fast so, als ob die Angst vor dem Internet die Zeitungsverlage dazu brächte, das Netz mit Gewalt vollzuschreiben. Als Kollateralschaden bleibt dabei das Gespür des Lesers für die wirklich wichtigen Nachrichten auf der Strecke.
Wir werden zu getriebenen News-Junkies, die verzweifelt damit kämpfen, Informationen zu verarbeiten und einzuordnen. Ich bin aufgrund meines Jobs seit Jahren treuer Leser von SZ, FAZ, taz, Zeit, Freitag und Spiegel . Obendrein nutze ich deren Online-Angebote und bemerke an mir in mittlerweile erschreckend kurzen Abständen den Neuigkeitenentzug, eng verbunden mit dem schon erwähnten Smartphone-Turkey.
Aus der Hosentasche ruft das Telefon: »Nimm mich! Ich habe was für dich!«, und siehe da: Spiegel Online hat die Startseite tatsächlich schon wieder umgebaut, das heißt die alten Artikel hin- und hergeschoben und die Fotos ausgetauscht. Clever, denn dadurch bekommt man das Gefühl, es sei alles neu, und man liest denselben Mist ein weiteres Mal. Wie oft habe ich einen Artikel dreimal gelesen, nur weil das Titelbild ein anderes war. In der Regel war das aber auch gut so, weil ich den Inhalt eh schon wieder vergessen hatte.
Hier zeigt sich, wann ich an die Grenze meiner geistigen Leistungsfähigkeit gerate. So schnell, wie Neuigkeiten in unser Hirn eindringen, fallen sie auch wieder raus. Machen Sie ruhig mal den Test bei sich oder bei Freunden, und konfrontieren Sie sie mit Stichworten zu »großen« Medienereignissen, Katastrophen und Skandalen, die länger als ein paar Wochen zurückliegen. Selbst bei einem Stichwort wie Fukushima wird man häufig hören: »Warte mal. Hmm, Fukushima. Du, sag nix. Ich komm gleich drauf. Ja: Frauen-WM 2011, und die Fukushima stand bei den Japanerinnen im Tor!«
Werden wir durchs Netz also dümmer oder vergesslicher? Nein, unser Hirn kapituliert lediglich vor den Datenmassen. Musste in früheren Zeiten in einem handelsüblichen Kopf nur der Inhalt einer Tageszeitung nebst ein paar Telefonnummern, Adressen, Namen, Gesichtern und ein bisschen Allgemeinbildung Platz haben, wird heute gnadenlos und ungefiltert alles Wissen der Welt hineingepumpt, bis die Warnsirene heult. Es ist ein bisschen so, als wolle man die Bibliothek von Alexandria in einem Besenschrank unterbringen.
Dass wir noch nicht kollektiv durchgedreht sind, ist ein Wunder und weist darauf hin, dass die Evolution weiterhin ihren Dienst tut und uns auf die
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