Hilfe, die Googles kommen!
eines Tages mit drei Gurken unterm Arm über die Schwelle der Haustür schritt, konnte ich nicht anders, als verängstigt in den Schuhschrank zu flüchten und zu schreien:
» OH GOTT, WO HAST DU DAS TEUFELZEUG HER? «
»Die Gurken? Die sind aus Offenbach!«
» DAS IST NAH DRAN. AAAAAHHHH! «
Die im Nachhinein völlig überspannte Berichterstattung, die zu noch überspannteren Reaktionen führte, hatte eine neue Qualität, weil nicht nur die Bild und ihre effekthaschenden Epigone mitmachten, sondern auch die seriösen Medien bei EHEC unter einem heftigen Nachrichtendurchfall litten. Die Speerspitze journalistischer Integrität, Der Spiegel , titelte »Der Feind im Essen«, woraufhin etliche Abonnenten nach dem Verzehr von Fertigsalatmischungen einen Exorzismus vom ört lichen Gemüsehändler durchführen ließen. Wer kann es ihnen verdenken, wenn selbst untadelige Journalisten die Apokalypse prophezeiten.
Die Koryphäen von Spiegel Online bedachten die Geschichte mit der hollywoodreifen Überschrift »Ärzte schockiert über aggressiven Erreger!« 132 Dieser Artikel gab mir zum ersten Mal eine Ahnung, dass Faktenlage und Art und Weise der Aufarbeitung möglicherweise in einem Missverhältnis standen. Es wurden zwei (!) Ärzte zitiert, deren Schock sich auf die Aussage »Kennen wir so nicht« reduzieren ließ. Dabei legte die Überschrift eigentlich nahe, dass hier eine Armada angsterfüllter Mediziner auf ihrer kopflosen Flucht ins nicht-spanische Ausland noch schnell ihre desperaten EHEC -Erkenntnisse in die Redaktion telefoniert hätten. Bild, Spiegel , FAZ , Zeit – wo waren die Stimmen, die wenigstens mal »kein Grund zur Panik« in ihre Artikel einbauten? Angesichts der nackten Statistik hätte man das schon machen können.
Na klar, es konnte keiner genau sagen, wo die Reise hin geht, und natürlich war jeder einzelne EHEC-Fall tragisch. Aber reichte das aus, um den Teufel in buntesten Farben an die Wand zu malen? Das Robert-Koch-Institut verzeichnete während der Epidemie 834 bestätigte Fälle von HUS , unter denen 30 zum Tod geführt haben. Bei 82 Millionen Deutschen lag die Wahrscheinlichkeit zu erkranken bei 0,001 % – daran zu sterben bei 0,00004 %.
Gerade Letzteres entspricht ungefähr der Wahrscheinlichkeit, von Guido Westerwelles Dienstwagen im Feierabendverkehr von Oer-Erkenschwick überrollt zu werden. Sie wären im Jahr 2011 nach meinen Berechnungen 133 mal eher auf dem Weg zum Salatkaufen Opfer eines Verkehrsunfalls geworden, als sich den tödlichen Erreger einzufangen. Fairerweise muss man aber auch sagen, dass die Gefahr, an HUS abzunippeln, dreimal höher war, als mit einer Gurke unter dem Arm vom Blitz getroffen zu werden.
Dennoch saß uns allen die Angst im Nacken, wo doch der Tod in der Rohkost lauerte und der Caesar’s Salad sich aufgemacht hatte, mit einem EHEC -Feldzug unseren Darm zu erobern. Und das alles, weil Journalisten, angefeuert vom brennenden Wunsch, entweder »der Erste« oder zumindest »der Schockierendste« zu sein, keine Zeit mehr für seriöse Berichterstattung hatten.
Was sich heute so heiter in Pointen verpacken lässt, war damals kein Spaß. Auch nicht, als Ilse Aigner und der marktliberale Justin-Bieber-Verschnitt Daniel Bahr, seinerzeit Umweltminister, eine Pressekonferenz gaben und dabei aussahen wie zwei Leitern ohne Sprossen. Frei nach Shakespeare hieß es plötzlich: »Es war die Sprosse und nicht die Gurke, die eben jetzt den bangen Darm durchdrang.«
Sprossen waren also der EHEC -Träger. Dass dieser sinnlose Zierrat auf überambitionierten Kantinensalaten solche Probleme bereiten konnte, hätte wohl keiner für möglich gehalten. Das zeigt wieder einmal, dass die Welt oft komplizierter ist, als sie in der Zeitung und im Internet beschrieben wird.
Christian Wulff und die Fliegerbombe
von Fukushima
Leider ist oft auch das Gegenteil der Fall und die Realität ist bei weitem nicht so komplex, wie es die Berichterstattung vermuten lässt. Eine Veröffentlichung im Internet unterliegt rein physisch keiner Begrenzung mehr. Es gibt keine Spalten oder Seiten, also keine natürlichen Grenzen. Im Internet ist immer Platz – für alles. Und dieser praktisch unendlich verfügbare Freiraum will gefüllt werden. So ballern uns die Schreiberlinge mit allen Details zu, die auch nur im Entferntesten mit der eigentlichen Nachricht zu tun haben.
Bei der Affäre um den Ex-Bundespräsidenten Christian Wulff bedeutete das, dass neben seinen halbwahren
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