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Hill, Susan

Hill, Susan

Titel: Hill, Susan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Menschen dunkles Sehnen: Kriminalroman (German Edition)
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da drinnen sein.
Der Zeiger hatte sich wieder bewegt. Dann, irgendwo hinter uns, begann jemand zu singen, und allmählich fiel die Menge ein, bis alle sangen, aber sehr leise. Das sanfte, tiefe Anschwellen der Hymne ließ mich erschauern.

Herr, bleibe bei uns,
Denn es will Abend werden,
Und der Tag hat sich geneiget.
Herr, bleibe bei uns.
Sie sangen noch einen Vers, und dann hörte das Singen ganz plötzlich auf, als hätte ein Dirigent von irgendwoher das Zeichen gegeben. Und danach entstand die größte Stille, die ich je erlebt hatte.
Die Uhrzeiger standen auf acht. Der Mann, der mich auf den Schultern trug, umschloss meine Beine fester. Ich starrte und starrte auf den Turm. Jeder in der Menge schien aufgehört haben zu atmen, und der Himmel war grau und schimmerte schwach hinter dem dunklen Gefängnis.
Nichts geschah. Niemand kam auf den Turm. Ich strengte meine Augen an, falls ich nicht deutlich genug sehen konnte, aber da war immer noch nichts, überhaupt nichts, für lange Zeit, und die seltsame und furchtbare Stille hielt nach wie vor an.
Und dann sah ich einen Mann in Uniform über den Gefängnishof zum Tor kommen, mit einem weißen Blatt Papier in der Hand. Ganz vorn in der Menge erhob sich ein Murmeln, und ein Flüstern setzte ein und breitete sich wie ein Lauffeuer aus. Der Mann trat aus dem kleinen Tor, eingelassen in das große, und heftete das Blatt Papier an ein Holzbrett. Das Murmeln wurde stärker. Menschen erzählten es einander und gaben es weiter, gaben es immer weiter, und dann hob mich der Mann so abrupt von seinen Schultern, dass mir schwindlig und übel wurde.
»Sag danke«, sagte Tante Elsie.
Ich wusste nicht, wofür ich ihm danken sollte. Ich hatte nichts gesehen. Nichts war passiert. Das sagte ich auch meiner Tante.
»Ein gottloser, böser Mann ist gehängt worden, und du warst hier, du hast es bezeugt, du hast gesehen, wie der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Vergiss das nie.«

8
    I ris Chater hatte Dr. Deerborn zwar gesagt, sie sei müde, aber nicht die richtigen Worte gefunden, um ihr zu vermitteln, wie müde sie war. Jeder Tag seit Harrys Tod war ein Kampf bis zur Erschöpfung, die ihr den Kopf vernebelte und ihre Glieder mit warmem, nassem Sand zu füllen schien. Wenn sie einkaufen ging – und sie entschied sich jetzt immer für die Geschäfte in der näheren Umgebung, war seit Wochen nicht mehr im Zentrum von Lafferton gewesen –, hätte sie sich auf den Bürgersteig legen und einschlafen können.
    Jetzt lag sie auf dem Sofa im Vorderzimmer. Die Müdigkeit war schlimmer, obwohl Iris gerade über zwei Stunden lang geschlafen hatte. Das Feuer zischte, und die Vorhänge waren halb zugezogen. Die Vögel verhielten sich still unter ihrem Tuch.
    Sie sah, dass es draußen dunkel geworden war. Das war mit am härtesten zu ertragen – allein zu sein am Ende des Jahres, wo es spät hell und früh dunkel wurde, die Tage so kurz waren und die Nächte endlos.
    Aber im Moment fühlte sie sich unter der warmen Decke sehr wohl und seltsam glücklich. Das Zimmer schien sie in einer schimmernden Umarmung zu halten, und die Wärme tat der Arthritis in ihren Knien gut. Vor allem hatte sie das wunderbare Gefühl, dass Harry bei ihr im Zimmer war, ein Gefühl, das unvorhersehbar kam und ging. Nach einem Augenblick sprach sie seinen Namen aus, leise, zögernd, erschreckt vom Klang ihrer eigenen Stimme.
    »Harry?«
    Sie hörte nichts, aber sie wusste, dass er ihr geantwortet hatte. Sie streckte die Hand aus.
    »Oh, Harry, Liebster, es ist schwer, es ist sehr schwer. Ich weiß, dass du glücklich bist und keine Schmerzen mehr hast, und darüber bin ich froh, natürlich bin ich das, aber ich vermisse dich so sehr. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass es so schwer sein würde. Du wirst mich doch nicht gleich verlassen, oder? Solange ich weiß, dass du hier bei mir bist, werde ich es schaffen.«
    Mit schierer Willenskraft versuchte sie, ihn dazu zu bringen, sich auf den Sessel ihr gegenüber zu setzen, damit sie ihn sehen konnte, statt seine Anwesenheit nur zu spüren, damit er ihr zeigen konnte, dass es ihm gut ging und er sich nicht verändert hatte.
    »Ich möchte dich sehen, Harry.«
    Das Gasfeuer flackerte plötzlich auf, und die Flammen wurden für eine Sekunde blau. Iris hielt die Luft an, wünschte ihn mit aller Kraft herbei und betete.
    Er war da.
    »Ich will dich sehen«, jammerte sie laut, und die plötzliche, kalte Gewissheit, dass es nicht passieren würde, und die damit

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