Hill, Susan
teuersten Geschenke, egal, ob sie es sich leisten können; es ist ihnen sogar gleichgültig, ob diese Geschenke willkommen sind.
Für einen impulsiven Augenblick fühlte sich Freya vollkommen mit dieser Frau verbunden und spürte genau, dass sie damit richtig lag.
Das Tonband
Du hast mir mal erzählt, dass du ins Krankenhaus gegangen bist, um mich, wie du sagtest, »angezogen wie einen Arzt« zu sehen. Du hast fast drei Stunden lang gewartet, aber ich gehörte nicht zu den Gestalten im weißen Kittel, die an dir vorbeikamen, und schließlich hast du aufgegeben und bist enttäuscht nach Hause gegangen. Du hattest keine Ahnung, dass die Studenten in einem anderen Gebäude waren und sowieso im ersten Jahr selten weiße Kittel trugen; da gab es nur Vorlesungen und Mitschreiben, und wir trugen Sportsakkos. Aber du wolltest mich sehen, weil du nur dann glauben konntest, dass ich wirklich hier war, ein echter Medizinstudent. Dann hättest du stolz auf mich sein können, und der weiße Kittel wäre ein Symbol dieses Stolzes gewesen. Als ich ihn dann täglich zu tragen begann, hättest du dir nie vorstellen können, wie stolz ich ebenfalls darauf war.
Während der ersten paar Monate war es, als sei ich wieder ein kleiner Junge, der mit der Erkenntnis aufwacht, dass heute sein Geburtstag ist, und sich kneifen muss, um zu glauben, dass es wahr ist. Viele Wochen lang konnte ich wirklich nicht glauben, dass ich das erreicht hatte, nach dem ich mich so lange gesehnt und auf das ich seit dem Tag hingearbeitet hatte, an dem ich wegen der zerbissenen Lippe im Krankenhaus genäht worden war.
Die Medizinvorlesungen waren durchaus interessant, aber in vieler Hinsicht war es wie die Rückkehr auf die Schulbank, und ich wollte mit der echten Arztausbildung beginnen. Ich wollte meinen weißen Kittel tragen. Ich wollte unter den mit Operationskitteln und Masken bekleideten Chirurgen und Anästhesisten bei Operationen zuschauen. Und vor allem wollte ich den menschlichen Körper sezieren.
Als wir zum ersten Mal den Sezierraum betraten und ich die Leichen auf den Tischen sah, eine für jede Gruppe von uns, wurde mir schwindlig, aber nicht vor Entsetzen oder Abscheu wie den anderen, die bleich wurden und hinausliefen; mir wurde vor Aufregung schwindlig, sodass meine Hände zitterten und ich sie hinter dem Rücken verbergen musste. Dieser Raum, mit diesen Leichen, diesen Instrumenten, diesem Geruch nach Formaldehyd und Antiseptika, die den Verwesungsgeruch überdeckten, war der Ort, an dem ich schon so lange sein wollte, war das Zentrum meiner Träume und das Ende so vieler Jahre Arbeit. Der Nervenkitzel hat mich nie verlassen, das Gefühl einer furchtbaren Erregung, das Gefühl von Macht. Eine Leiche in einem Sezierraum scheint so weit vom Leben entfernt zu sein, als hätte sie nie etwas damit zu tun gehabt. Das Fleisch hat keine lebendige Farbe, sondern die Farbe von Kitt. Wenn man in etwas Lebendes schneidet, blutet es, frisches, hellrotes Blut fließt aus den Adern, aber wenn man das Skalpell in eine Leiche auf dem Seziertisch versenkt, stößt man auf nichts derart Lebendiges. Nach sehr kurzer Zeit wird das Schneiden durch Fleisch und Sehnen und Muskeln, das Öffnen des Magens, des Herzens und der Lunge, das Herausnehmen von Leber und Nieren, das Aufwickeln meterlangen Gedärms zur Routine. Es wird auch zu einer sterilen Tätigkeit, und die Leiche könnte ebenso gut aus Plastik oder Gummi sein. Ein Hilfsmittel in der Ausbildung, und für einen auszubildenden Chirurgen gibt es keinen Ersatz für den Umgang mit echtem menschlichem Gewebe.
Es sind Kadaver, die schon lange tot sind. Wer waren sie? Woher stammten sie? Welches Leben haben sie geführt? Diese Fragen stellt man nicht. Woran sind sie gestorben? In welchem Zustand befinden sich ihre Organe, und was erzählt uns das über Krankheit und Alterungsprozess? Das sind die Fragen, die wir gelernt haben zu stellen und auf die wir die Antworten durch geduldiges Schichtabtragen an den Leichen unter unseren Händen finden würden. Wie sind die Muskeln angeordnet, wo liegt die Leber im Verhältnis zur Wirbelsäule, wo sind die Hauptschlagadern, deren Namen wir aus dem Lehrbuch auswendig gelernt, aber die wir noch nie in natura gesehen haben?
Nach zwei Wochen wirkte alles alltäglich, und ich war nicht mehr erregt. Viele Studenten gewöhnten sich so sehr an die Leichen, dass sie ihre Witze darüber machten. Sie entsetzten mich. Sie behandelten die Leichen ohne Respekt, was mir immer falsch
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