Hill, Susan
vorgekommen ist. Der tote Körper verdient Achtung, egal, wie wir der lebenden Person, die ihm einst innewohnte, gegenüber empfunden haben. Ich war schockiert, als ich eines Morgens in den Sezierraum kam und sah, wie einer meiner Mitstudenten Seilspringen mit einer Darmschlinge machte.
Ich habe meine Liebe zum Sezierraum nie verloren. Das weißt du jetzt. Aber es hat nicht gereicht.
Bei einem großen Teil des Lehrstoffs musste ich mich sehr anstrengen. Die chemischen Formeln, die Physiologie, die Aufzählung der Krankheiten mit ihren Ursachen und Symptomen waren tief in dicken Lehrbüchern verborgen, mussten herausgeholt und dann auswendig gelernt werden, was ich schwierig fand. Aber ich hätte niemals aufgegeben. Du hast alles für mich geopfert, damit ich dort sein konnte, und das habe ich dir nie vergessen, das weißt du.
Daher war ich umso gespannter auf das, was noch kommen würde.
Der Sezierraum war der Anfang. Was mich danach antrieb, war die Aussicht, in den Operationssaal zu kommen und echten Chirurgen bei der Arbeit an lebenden Körpern zuzuschauen, deren Herz noch schlug und deren Lunge sich dehnte und deren Blut durch die seidigen Adern gepumpt wurde.
Erstaunlicherweise hatte ich nie viel über das Leichenschauhaus nachgedacht und wie ich darauf reagieren würde. Ich war nicht mal sicher, ob wir es je besuchen und wann und was uns dort erwarten würde.
Ich wünschte, du könntest verstehen, was ich empfand, als ich zum ersten Mal durch die hin- und herschwingenden Plastiktüren in den hell erleuchteten, weiß gekachelten Raum kam. Ich hatte eine Frage über Obduktionen gestellt, und zur Antwort wurde ich dorthin geschickt, um bei einer zuzuschauen.
Vielleicht hat jeder, der Medizin studiert, einen Moment der Klarheit, der ihm das Muster seiner Zukunft zeigt; jene, die Geburtshelfer werden, hören den ersten Schrei eines Säuglings, Augenärzte empfinden Erregung bei dem Gedanken, das Augenlicht zurückgeben zu können, die Psychiater reden mit einem angeblich geisteskranken Patienten und glauben, sie können diesen Menschen erreichen, seine geistige Gesundheit berühren und sie wieder zum Leben erwecken.
Mein Moment der Klarheit kam im Leichenschauhaus.
15
I ch muss nicht in die Sprechstunde, mir geht’s doch gut, oder?«
»Du gehst – und wenn ich mir den Morgen freinehmen und dich persönlich hinschleppen muss.« Sandy Marsh zog die Decke zurück und ließ die kalte Morgenluft über Debbies Körper streichen. »Dr. Deerborn ist netterweise hergekommen, und du warst in einem schrecklichen Zustand … Alles Mögliche hätte passieren können. Du hättest sterben können.«
»Ich wäre nicht gestorben.«
»Komm jetzt, steh auf. Du kannst nicht den Termin sausen und die Ärztin warten lassen. Das Wasser hat gerade gekocht, und ich habe zwei Brotscheiben in den Toaster gesteckt. Ehrlich, du brauchst eine Aufpasserin, keine Mitbewohnerin.«
Sandy ging zur Tür. Sie sah gut aus, dachte Debbie, schlank genug, um einen Müllsack anzuziehen und trotzdem schick auszusehen. An diesem Morgen trug sie eine schwarze Matrosenjacke über einem eng sitzenden, schwarz-weißen Druckrock, hohe Stiefel und einen pinkfarbenen Paschminaschal, der das ganze Outfit betonte. Es war auch keine Frage des Geldes, denn Sandy hat nie viel übrig, nachdem alle Rechnungen bezahlt waren; sie kaufte sorgsam und billig ein und besaß die beneidenswerte Gabe, zu wissen, wie man die Sachen am besten kombinierte. Aber nicht mehr lange, sagte sich Debbie auf dem Weg ins Bad, nicht mehr lange, dann bin ich auch schlank und meine Haut ist rein, und dann kann ich das auch.
Sie sah in den Spiegel. Die Schwellung war zurückgegangen, aber es war immer noch eine schwache Rötung zu sehen, und die Haut unter ihren Augen wirkte papierdünn.
»Tschüss, Debs. Ich ruf dich an, um zu hören, was sie gesagt hat.«
»Ja, ja, schon gut.«
Aber Debbie wusste, dass sie sich glücklich schätzen konnte. Sandy mochte zwar herrisch und rechthaberisch sein, doch sie war eine gute Freundin, und Debbie war ihr etwas schuldig. Sie würde den Termin bei Dr. Deerborn einhalten, wenn auch nur aus diesem Grund.
Die Praxis befand sich ein paar Meilen entfernt am anderen Ende der Stadt, und normalerweise hätte Debbie den Bus genommen, aber heute Morgen ging sie zu Fuß. Die Strecke war nicht besonders abwechslungsreich, doch bei jedem Schritt, den sie machte, fühlte sie sich besser; sie war an der frischen Luft, atmete tief durch und war sich der
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