Hill, Susan
eingeschränkt. Ein wenig.
Jetzt gewann das Licht zunehmend an Kraft. Debbie hatte fast die Kuppe des Hügels erreicht, wo ein großer Kreis alter Eichen stand, ein Wahrzeichen von Lafferton. Die kahlen Äste bewegten sich leicht, machten ein trockenes Geräusch, eine Brise fuhr Debbie durch die Haare. Hier oben stand eine Bank, nur eine Steinplatte über zwei andere Platten gelegt, und Debbie setzte sich, wandte sich nach Osten und dem heller werdenden Himmel zu, der jetzt in dem dünnen Streifen über der dunklen Erde einen schwachen Rosaton angenommen hatte. Intensiv und erregend war sie sich bewusst, das dies ihre eigene, besondere Zeit war, in der sie am stärksten mit den Kräften, dem Universum, der Natur, der Harmonie der Sphären in Einklang war … Dingen, die sie nicht vollständig verstand, aber die sie jetzt ganz sicher zu spüren meinte. Zu diesem Zeitpunkt würde sie immer Stärke und Trost finden, sie würde ihre Energie aufladen und die Zukunft planen, sich der leitenden Hand des Lichtes überlassen. Sie hörte Davas Stimme, die immer weiter sanft in ihr Ohr gesprochen hatte, während sie auf der Couch lag, wie ein fließender Strom, ohne Unterbrechung, ohne Veränderung des Rhythmus.
Das Licht füllte den Himmel, kroch über die Dunkelheit und löschte sie aus, und dann stieg die Sonnenscheibe mit rosenrotem Glühen über den Rand der Welt. In den Bäumen direkt vor ihr begann ein Vogel zu zwitschern, wobei Debbie keine Ahnung hatte, was für ein Vogel das war. Später, im Frühjahr, würden hier die Vögel im Chor singen, und die Leute kämen hierher, nur um ihnen zuzuhören. Sie war sich nicht sicher, ob ihr das gefiel. Sie wollte diesen Ort, in ihrer Zeit, für sich alleine haben.
Von weiter unten, auf den niederen Hängen, hörte sie ein Pfeifen. Sie konnte die Kathedrale jetzt deutlich erkennen, der Kirchturm berührt von der aufgehenden Sonne. Es war verblüffend. Die Welt wurde vor ihren Augen neu erschaffen, als sei sie tot gewesen und erwache wieder zum Leben, oder wie ein Bild, das von einer unsichtbaren Hand gemalt wurde, während Debbie zusah.
Sie nahm die Karten heraus und las sie, las die Anrufungen dann laut, wenn auch mit gedämpfter Stimme, wobei sie sich ein bisschen albern vorkam.
»Meine Zeit«, sagte sie freudig, »das ist meine Zeit.«
Sandy würde jetzt aufstehen, in ihrem frischen, zitronenfarbenen Morgenmantel im Badezimmer herumhantieren, den vertrackten Heißwasserboiler für ihre Dusche anstellen. Der gewöhnliche Tag begann. Für gewöhnliche Menschen, dachte Debbie plötzlich, weil sie ein jähes, merkwürdiges Gefühl hatte, nicht gewöhnlich zu sein, nicht wie die anderen, all diese Menschen in ihren kleinen Häusern und Wohnungen und Autos und Bungalows unter ihr in Lafferton, sondern anders, erwählt, ausgesucht wegen ihres besonderen Wissens, ausgestattet mit besonderen, ihr vorbehaltenen Einsichten. Sie war nicht mehr die alte übergewichtige, unglückliche Debbie Parker mit der unreinen Haut, sie war die von Dava Erwählte, eine Hand hatte sich auf sie gelegt und sie verwandelt.
Am liebsten hätte sie gesungen.
Außerdem war sie hungrig und musste aufs Klo. Die Morgendämmerung war vorbei, und damit auch ihre besondere Zeit. Sie steckte die Taschenlampe ein und machte sich freudig auf den Rückweg.
Als sie den Fuß des Hügels erreichte, erkannte sie den weißen Kleinbus, der in einem merkwürdigen Winkel quer über dem Weg stand. Ihr Herz machte einen Satz. Sie war sich sicher, ganz sicher, dass es der Kleinbus war, den ihr Retter gefahren hatte, der Mann, der weggefahren und verschwunden war, kein Mensch, sondern ein Engel. Sie blieb stehen.
Jemand schien halb zusammengekrümmt auf dem Vordersitz zu kauern, hing fast aus der offenen Tür heraus. Und es war keine Bewegung zu sehen.
Entweder beugte sich der Mann hinunter und fummelte an etwas nahe den Fußpedalen herum, was gut möglich war, wenn der Bus kaputtgegangen war, oder er war verletzt; vielleicht war ihm auch schlecht geworden.
Sie trat näher und schob sich zwischen die offene Bustür und die Büsche, überlegte rasch, ob sie Hilfe holen oder rufen sollte, ob sie genug über erste Hilfe wusste. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass sie ihm helfen musste, genau wie er ihr geholfen hatte. Er hatte sie gerettet und in Sicherheit gebracht, und jetzt musste sie für ihn dasselbe tun.
Die Äste der Hecke schnappten an ihren Platz zurück, und jetzt stand sie neben seinen auf dem Vordersitz
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