Hill, Susan
auf die Sache, nicht wahr?«
Sandy starrte die Polizistin an. Vor lauter Wut und Verzweiflung konnte sie kaum sprechen. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Eine Vorgeschichte von Depression.«
»Ist schon gut, Louise. Heute Nacht können wir wirklich nichts tun, Miss Marsh, und ich bin sicher, Ihre Freundin wird morgen früh nach Hause kommen. Wenn Sie bis dann noch nichts von ihr gehört haben, rufen Sie uns an, und wir werden weitere Ermittlungen einleiten.«
Die Polizistin war bereits aus der Tür stolziert. Der Constable griff nach seinem Helm. »Es wird nicht leicht sein, aber versuchen Sie ein wenig zu schlafen. Mit Ihrem Anruf bei uns haben Sie genau das Richtige gemacht.«
Sandy war ihm dankbar und tat die Polizistin als hochnäsige Kuh ab. Trotzdem, was sie da angedeutet hatte, war beunruhigend. Debbie war es besser gegangen, viel besser. Aber Depression ist eine merkwürdige Sache, das wusste Sandy, und könnte Debbie plötzlich wieder überfallen haben, ohne Vorwarnung, sodass sie …
»Hör auf«, schalt sie sich, »hör sofort damit auf.«
Sie machte sich einen Drink, füllte eine Wärmflasche und ging mit einem Maeve-Binchy-Taschenbuch ins Bett, das sie sich früher am Tag gekauft hatte. Vielleicht konnte sie sich in den Schlaf lesen.
Erst um halb vier schlief sie ein, und bereits um sechs wachte sie wieder auf. Rasch stieg sie aus dem Bett und ging direkt in Debbies Zimmer. Es war leer und noch genauso, wie sie es in der gestrigen Nacht verlassen hatte. Der Rest der Wohnung war ebenfalls leer. Sandy setzte sich an den Küchentisch und schaute hinaus auf das Rechteck perlgrauen Himmels über dem Dach des Nebenhauses. Sie fühlte sich ausgelaugt, müde, und von dem angespannten Schlafen taten ihr alle Muskeln weh. Aber da war auch noch etwas anderes, was sie zunächst nicht richtig einordnen konnte, fast wie ein Schmerz in der Brust. Dann erkannte sie, dass es Angst war. Sie hatte Angst um Debbie. Trotz der gleichgültigen Versicherungen von Police Constable Louise Tiller, Debbie sei über Nacht bei Freunden geblieben, wusste Sandy, dass ihre Freundin das nicht getan hatte, in tausend Jahren nicht tun würde. Aber was hatte sie gemacht? Wohin war sie gegangen? Warum war sie nicht heimgekommen?
Sie ging ins Wohnzimmer und sah nach, ob das Telefon funktionierte, kramte dann ihr Handy hervor und überprüfte auch das. Dann rief sie in der Notaufnahme vom Kreiskrankenhaus Bevham an. Keiner der Eingelieferten passte auf ihre Beschreibung von Debbie. Als Nächstes meldete sie sich im Büro und sagte Bescheid, dass sie heute nicht zur Arbeit käme. Danach duschte sie, zog sich an, verbrannte sich den Mund an einer viel zu heißen Tasse Tee und ging zum Polizeirevier Lafferton.
DC Nathan Coates war der Routinebericht über ein vermisstes Mädchen sofort aufgefallen. Als Freya zum Dienst kam, lag bereits eine Kopie auf ihrem Tisch.
»Was halten Sie davon, Sarge?«, fragte er.
Sie überflog den Bericht. »Krankenhäuser?«
»Nichts.«
»Hm.« Freya holte sich den ersten Kaffee des Tages. Der Ausdruck »psychiatrische Vorgeschichte« war ihr ins Auge gesprungen, was die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass es sich um ein depressives Mädchen handelte, das in einer besonders miesen Stimmung einfach abgehauen war und wieder auftauchen würde, hoffentlich lebend, aber möglicherweise tot, wenn sie selbstmordgefährdet war. Freya stand auf dem Treppenabsatz und trank nachdenklich aus der Plastiktasse. Das war das wahrscheinlichste Szenario, und doch … Irgendetwas war an der Sache, irgendetwas stimmte nicht; Freya hatte Kollegen, die bei Fällen von intuitiven Gefühlen redeten, nie getraut, aber hin und wieder musste sie zugeben, dass sie selbst so ein Gefühl hatte. Genau wie jetzt. Das war eine Vermisstenanzeige, die sie nicht so einfach abgelegt sehen wollte.
Nathan kam aus der Schwingtür hinter ihr. »Sarge, die Mitbewohnerin ist unten. Kam gerade, um zu melden, dass das Mädchen immer noch nicht wieder aufgetaucht ist.«
Wenn es sich nicht um eine Sache gehandelt hätte, die auch nicht im Entferntesten amüsant war, hätte Freya über den eifrigen Ausdruck in Nathans Gesicht gelächelt. Er hatte sich in den Fall von Angela Randall verbissen, und hier kam etwas Neues und möglicherweise Relevantes dazu. Nathan spürte Action, und nach all der Zeit, die er mit Aktendurchsicht am Computer verbracht hatte, war Action genau das, was er brauchte. Freya warf ihre leere Plastiktasse in den Abfalleimer und
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