Himmel uber Langani
sie, kleine Jungen zu mögen.«
»Nein, das kann nicht sein. In Nairobi sind schließlich viele hässliche Gerüchte und gemeine Tratschgeschichten im Umlauf.«
»Sie sind ja so ein Unschuldslämmchen, Sarah. Für eine Wissenschaftlerin, die sich auf die Beobachtung von tierischem Verhalten spezialisiert hat, sind Sie ziemlich blind. Sie können mir morgen den Brief geben. Aber vorher …«
Er streckte die Hand aus und zog sie trotz ihres Widerstands an sich. Während er sie fest umklammerte und sich zu ihr hinunterbeugte, murmelte er, er werde sie in eine Welt entführen, wo sie Trauer und Sorge eine Weile vergessen könne. Sarah kochte vor Wut. Sie trauerte um ihren geliebten Piet! Wie konnte dieser widerwärtige Mensch nur glauben, dass eine flüchtige Bettgeschichte ihren schrecklichen Schmerz lindern würde? Was für ein Mann ließ eine Frau im Stich, ohne mit der Wimper zu zucken, und besaß dann die Frechheit, ihre beste Freundin verführen zu wollen? Sie versuchte, sich loszureißen, aber er war zu stark. Als sie sich kurz in seinen Armen erschlaffen ließ, lächelte er, voll Gewissheit, dass sie sich ihm jetzt endlich hingeben würde. Doch im nächsten Moment rammte sie ihm mit voller Wucht das Knie zwischen die Beine. Ein triumphierendes Grinsen auf den Lippen, sah sie zu, wie er sich stöhnend auf dem Boden krümmte und fassungslos nach Luft rang. Nachdem er sich wieder aufgerappelt hatte, hob Sarah den Fuß und versetzte ihm einen Tritt, sodass er hinaustaumelte. Dann knallte sie die Tür so heftig zu, dass die ganze Hütte erzitterte, und ließ sich aufs Bett sinken. Ihre heftige Reaktion überraschte sie selbst, doch sie bedauerte nichts. Viktor hatte es nicht besser verdient. Nach einer Weile hörte sie, wie er sich trollte.
Nun herrschte endlich Ruhe, und sie musste an George Broughton Smith denken. Es konnte doch nicht sein, dass Viktor mit seinen Behauptungen Recht hatte. Das war einfach unmöglich. George war ein ganz normaler Ehemann, ein liebevoller Familienvater, der seit über zwanzig Jahren mit derselben Frau verheiratet war. Die Ehe war zwar nicht unbedingt glücklich, doch an der angespannten Stimmung, die zwischen ihm und Marina herrschte, war sicher etwas anderes schuld. Und wenn doch nicht … Wusste Camilla davon, oder hatte es ihr jemand gesagt? George hatte ihr von einer Auseinandersetzung mit seiner Tochter erzählt. Sarah beschlich ein unbehagliches Gefühl, als sie die ersten Zeilen des bereits angefangenen Briefes las. Was sollte sie Camilla nun sagen? Würden die schrecklichen Ereignisse und Enthüllungen, die in letzter Zeit über sie alle hereinbrachen, denn nie ein Ende haben? Sarah zog sich aus und ging zu Bett, doch sie konnte nicht schlafen. Nach einer Weile setzte sie sich wieder an den Schreibtisch, klappte ihre Mappe auf, zündete die Lampe an und las die Aufzeichnungen dieses Tages. Die Beziehungen zwischen Tieren waren eindeutig weniger kompliziert. Nachdem sie ihre Arbeit noch einmal durchgesehen hatte, nahm sie den begonnenen Brief an Camilla und zerriss ihn. Sie würde es ein andermal versuchen.
Als sie zum Frühstück erschien, fehlte zur ihrer Erleichterung von Viktor jede Spur. Die restliche Woche über arbeitete sie mit Allie zusammen, lauschte ihren Ratschlägen, lernte mit jeder Stunde etwas dazu und konnte den Tag kaum erwarten, an dem sie selbstständig eine Elefantenfamilie würde beobachten dürfen. Über Viktors Besuch in ihrer Hütte oder den Grund seines überstürzten Aufbruchs verlor sie kein Wort, aber sie war sicher, dass Allie es ahnte.
»Ich würde mich freuen, wenn du heute für mich ein Päckchen und die Post abholen könntest«, meinte Dan eines Morgens zu ihr. »In der Wildschutzverwaltung von Isiolo kannst du deine kommunikativen Fähigkeiten auffrischen, bevor du auch so ein Eigenbrötler wirst wie ich oder Allie.«
Als sie das Päckchen und die Post entgegennahm, erhellte sich ihre Stimmung, denn zwei der Briefe waren für sie, und zwar von ihrer Mutter und von Tim. Sie widerstand der Versuchung, sie sofort zu öffnen, und beschloss, sie in aller Ruhe im Camp zu lesen. Allie hatte ihr einen Zettel an die Hüttentür geheftet.
Es wäre nett, wenn du Dans Notizen abtippen würdest. Sie liegen auf dem Tablett im Speisezelt. Viel Spaß mit seiner Sauklaue. Bis später. A.
Sarah schenkte sich aus der Thermoskanne eine Tasse Tee ein und setzte sich, um die neuesten Familiennachrichten zu lesen. Die erste Seite ihrer Mutter war in
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