Himmel uber Langani
nicht, warum du sie immer in Schutz nimmst. Wieso kannst du Mutter nicht so sehen, wie sie wirklich ist? Warum lässt du dich nicht von ihr scheiden, Daddy?« Sie bemerkte, wie ihr Vater zurückzuckte, doch sie konnte sich nicht bremsen. »Ihr seid nicht glücklich miteinander, und sie ist ständig wütend und verbittert. Allein wäre sie besser dran, und du könntest dann weiter …«
»Camilla, das ist eine Sache, die nur deine Mutter und mich etwas angeht, und niemanden sonst.« George drehte sich abrupt um. Mit versteinerter Miene griff er nach den Autoschlüsseln, öffnete die Haustür und ließ den trüben Londoner Morgen herein. Dann zögerte er und nahm mit einem gezwungenen Lächeln seine Tochter in den Arm. »Ich werde erst spät zurückkommen, und morgen liegt ein harter Tag vor mir. Aber am Wochenende unternehmen wir etwas zusammen.«
Seit diesem Tag hatten sie nicht mehr über die van der Beers gesprochen. Camilla wollte sich nicht mit ihrem Vater zanken, und so vermied sie heikle Themen, die die kostbaren, gemeinsam verbrachten Stunden verderben konnten. Jetzt dachte sie an ihn, während sie durch die regennassen Fensterscheiben hinaussah. Die feuchte Luft war über Nacht in ihr Schlafzimmer gekrochen, und sie fröstelte, als sie das Schiebefenster schloss, um den Lärm und die Abgase des morgendlichen Verkehrs auszusperren. Ihr Kopf schmerzte von den Cocktails und den vielen Zigaretten, die sie auf der Party am Abend zuvor geraucht hatte. Wann war sie bloß nach Hause gekommen? Ob George ins Büro gefahren war? Es war Samstag, aber er arbeitete oft am Wochenende. Wenn er noch im Haus war, konnten sie gemeinsam frühstücken – das wäre ein guter Start in den Tag. Im Salon war jedoch keine Spur von ihm zu sehen. Enttäuscht ging sie in die Küche und stellte den Wasserkessel auf den Herd. Mit einer heftigen Bewegung schob sie eine Scheibe Brot in den Toaster, um dann im Kühlschrank nach Butter, Marmelade und Milch zu suchen. Das hohe Pfeifen des Wasserkessels bohrte sich in ihren schmerzenden Kopf. Rasch hob sie ihn hoch und goss das kochende Wasser über die Teeblätter. Etwas davon spritzte auf ihre Hand, und sie fluchte laut vor Schmerz. Oben schlief Marina noch. Wahrscheinlich würde sie erst gegen Mittag aufstehen. Aber das war ihr gleich. Das Letzte, was Camilla jetzt wollte, war ein belangloses Gespräch mit ihrer Mutter über die gesellschaftlichen Ereignisse am kommenden Wochenende.
Sie musste jetzt nur noch die letzten Wochen ihres Kurses überstehen. Den eintönigen Stenografie- und Schreibmaschinenunterricht hatte sie bereits hinter sich gebracht, und sie sprach fließend Französisch. Außerdem hatte sie einige oberflächliche Vorlesungen über englische Literatur, Kunstgeschichte, über die Kunst des Tischdeckens und die Zubereitung von Soufflées besucht. Das alles hatte sie beinahe in Trance über sich ergehen lassen. Ihre Mitschülerinnen waren hauptsächlich darauf erpicht, Einladungen zu den begehrtesten Partys in London zu erhalten. Die Wochenenden verbrachten sie in zugigen Herrenhäusern auf dem Land, um nach guten Partien Ausschau zu halten. Camilla hatte wenig mit ihnen gemein, aber sie stürzte sich auf alles, was London zu bieten hatte, und stieß ihre Mutter mit der Wahl ihrer Bekanntschaften vor den Kopf.
»Du triffst dich mit höchst unpassenden Leuten, Camilla.« Marina hatte ihre Tochter von oben bis unten gemustert. »Und dein Aufzug ist schrecklich. Vulgär und billig und schlecht geschnitten. Du siehst aus wie eine Verkäuferin.«
»Vielleicht habe ich ja vor, eine zu werden. Man muss nicht mehr reich sein oder aus einer Familie der oberen Mittelklasse stammen, um akzeptiert zu werden. Ein Straßenhändler aus dem Eastend oder eine Verkäuferin können ebenso angesagt sein wie eine Herzogin. Und auch wenn meine Freunde sich nicht so ausdrücken oder kleiden wie du – sie sind Künstler, Schriftsteller und Menschen, die etwas Neues zu sagen haben. Die Welt verändert sich, Mutter. Wir sind eine neue Generation mit anderen Werten und müssen uns nicht hinter einer Mauer der Engstirnigkeit verstecken. Du kannst dir nicht vorstellen, wie dankbar ich dafür bin.«
»Mach dich nicht lächerlich, Camilla. Du gehörst zu einer gewissen Gesellschaftsschicht, weil du das Glück hattest, dort hineingeboren zu werden. Dafür solltest du sehr dankbar sein.«
»Deine Maßstäbe von Klassen, Geld und Besitz werden glücklicherweise schon bald Geschichte sein.« Camilla
Weitere Kostenlose Bücher