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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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von Indore in Zentralindien und dass sie sich von dort nordwärts bewegt hätten, durch die Staaten von Gwalior und die unter britischer Kontrolle stehenden Territorien von Sagar und Nerbudda bis in die nordwestlichen Provinzen, nach Rohilkhand im Norden, Oudh im Osten und Allahabad im Südosten, dabei Wege bis fast zweihundert Meilen pro Nacht zurücklegend.
    Die indischen Zeitungen in Delhi hielten sie für »eine Einladung an das ganze Land, sich zu einem geheimen Zweck zusammenzuschließen, der erst später aufgedeckt werden würde«. Mainodin Hassan Khan, ein thanadar außerhalb Delhis, gab gegenüber dem örtlichen Magistrat an, dass er die chapatis für »ein Zeichen einer baldigen  größeren Unruhe« hielt, und er erklärte, dass vor dem Fall der Marathen ein Zweig Hirse und ein Stück Brot von Dorf zu Dorf weitergereicht wurden, um einen bevorstehenden Aufstand anzukündigen. Andere glaubten, dass die Brotfladen eine Warnung davor seien, dass die Briten planten, den Indern das Christentum aufzuzwingen. »Ist es Verrat oder Scherz?«, fragte die englische Zeitung Friend of India am 5. März, und schließlich wurden diese Ereignisse und ihre mögliche Bedeutung als indischer Aberglaube abgetan und rasch vergessen, ebenso wie das Gerücht, in den von den Briten errichteten Getreidemühlen, die besseres und billigeres Mehl lieferten als von Hand gemahlenes, würden auch Tierknochen oder gar die Knochen toter Menschen von den Ufern des Ganges verarbeitet, oder das Gerücht, nach dem geplant sein sollte, Münzen aus Schweine- oder Rindsleder in Umlauf zu bringen.
    Um die gleiche Zeit, als die mysteriösen chapatis auftauchten, kursierte ein weiteres Gerücht, das bei weitem explosiver war und weitreichende Folgen haben sollte. Die Papierhülsen um die Patronen der neuen Enfield-Gewehre, mit denen die Armee erst vor kurzem ausgestattet worden war, waren angeblich mit Rinder- und Schweineschmalz eingefettet, um das Laden zu erleichtern. Die Patrone musste oben abgebissen, das darin enthaltene Schießpulver in den Lauf geschüttet und dann die restliche Patrone inklusive Kugel mit einem Ladestock hinterhergestopft werden. Bevor überhaupt ein einziger Probeschuss mit den neuen Gewehren abgefeuert worden war, machte das Gerücht die Runde, die Lippen aller sepoys würden von nun an mit jedem Schuss entweder mit dem für die Hindus unreinen Rinderfett oder dem für die Moslems ebenso unreinen Schweineschmalz in Berührung kommen – von den Briten systematisch so geplant, um sie alle zum Christentum zu bekehren. Sobald das Gerücht den Offizieren zu Ohren kam, beteuerten sie dessen Unwahrheit, doch ihre Worte verhallten ungehört.
    Protest wurde laut oder hinter vorgehaltener Hand geäußert, Ungehorsam regte sich in den Garnisonen des Landes, das gesamte Frühjahr hindurch. Es gab kleine Meutereien, punktuell auf der Landkarte verstreut, doch sie ließen sich rasch niederschlagen, gaben keinen Anlass zur Beunruhigung. Aber die Geschichte von den verunreinigten Patronen, die Absicht, die dahinter vermutet wurde, war das Samenkorn, das auf gut vorbereiteten Boden fiel, und die Saat keimte rasch, sobald die warme Jahreszeit begann.
    Gelbliche Lichtstrahlen erhellten von Osten her den Himmel über Delhi, kündigten einen neuen Tag an, heiß wie die vorangegangenen, voller Staub, der Mund und Augen austrocknete und zwischen den Zähnen knirschte, und einem Gluthauch, der zwischen den glühenden Mauern hindurchstrich und die Luft in den Straßen wie in einem Backofen erhitzte. Mensch und Tier litten unter der Hitze, die das Blut zähflüssig werden ließ; selbst die unzähligen Fliegen erschienen träge, erhoben sich wohl mehr aus Höflichkeit denn echter Fluchtabsicht, wenn sie weggewedelt wurden, und ließen sich sogleich mit einem müden Surren wieder nieder, in Augenwinkeln, Nasenlöchern, Haaren, auf den Lippen. Für die Muslime der Stadt waren die ersten tastenden Lichtstrahlen das Zeichen, rasch zu frühstücken, denn es war der sechzehnte Tag des Ramadan, des Fastenmonats – der elfte Tag des Monats Mai der Kolonialherren, ein Montag –, und sobald die Sonne aufgegangen war, durften sie keinen Krumen Nahrung und keinen Schluck Wasser mehr zu sich nehmen, bis Sonnenuntergang. Bald tönten die kehligen, rollenden Rufe der Muezzins von den Moscheen durch die Straßen und Gassen des Viertels unterhalb des Forts: » Alla-hu akbar! – La illaha ilal-lah! Gott ist groß! Es gibt keinen anderen Gott außer

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