Himmel über Darjeeling
schwieg einen Moment. Wie hätte er ihm erklären können, was er selbst nicht verstand, was er selbst nicht wusste? Er schilderte jene letzten Minuten so detailliert, wie er sie noch in Erinnerung hatte.
»Wird er uns hier finden können?« Fragend, mehr noch bittend sah Ian ihn an, und in diesem Moment war er wieder ganz Kind, in all seiner Verletzlichkeit und Hilflosigkeit, als er leise hinzufügte: »Er wird uns doch suchen? Er wird doch zurückkommen?«
Mohan nickte, und mit wehem Herzen bekräftigte er: »Gewiss. Spätestens, wenn der Krieg vorüber ist.« Doch er bezweifelte es, und schlimmer noch: Er sah, dass Ian es ebenfalls tat.
Amjad Das hatte ihnen beiden Bewegung verordnet, um ihre verkümmerten Muskeln wieder zu kräftigen, und so wanderten Mohan und Ian durch den Palast, Tag um Tag, und jeden Tag eine Stunde länger, durch die endlosen Gänge, die Innenhöfe, in die mittlerweile wieder die Sonne hineinschien. Die Kunstfertigkeit der Generationen von Steinmetzen und Holzschnitzern, die Pracht an bestickten Stoffen, Einlegearbeiten, an kostbaren Möbeln, Leuchtern, Statuen, Teppichen, verfehlte ihre Wirkung auf Ian nicht, der sich an der verschwenderischen Schönheit des Palastes nicht satt sehen konnte. Er stellte tausend Fragen, nach seinem Großvater, dem Raja, nach dem Leben, das Mohan Tajid früher hier geführt hatte, nach seiner Mutter, seinem Vater. Mohan Tajid zögerte anfangs, ihm alles zu erzählen, ihm die Umstände ihrer Flucht aus dem Palast zu berichten, den Grund für ihren überstürzten Aufbruch aus dem Kangratal. Doch Ian blieb hartnäckig, bohrte immer wieder nach, in knappen, präzise formulierten Sätzen, sog jedes Detail von Mohans Schilderungen in sich auf, verfiel dann wieder in das grüblerische Schweigen, das so typisch für ihn geworden war. Das Kind in ihm schien verschwunden zu sein. Er war vorzeitig, viel zu früh, zum Erwachsenen gereift.
»Hier«, sagte Mohan, als sie den verwilderten Garten betraten, der im fahlen Licht des frühen Abends farblos und staubig wirkte, »hier haben dein Vater und ich uns immer heimlich getroffen. Und hier ist er deiner Mutter begegnet.«
Stumm sah sich Ian um, betrachtete die wuchernden Zweige voll welker Blüten, das trockene Laub mehrerer Herbste, das über die verschmutzten, ehemals blau-weißen Kacheln verstreut war, den versiegten Brunnen, stand schweigend und gedankenverloren an dem Ort, an dem er gezeugt worden war, sah hinauf zum Ansú Berdj, dem Gefängnis seiner Mutter.
»Warum hat er uns am Leben gelassen?«, fragte Ian schließlich. Mohan schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil er meinte, der Ehre sei Genüge getan.«
Ian betrachtete den Apfelbaum, dessen Früchte fleckig und schrumplig waren. Viele davon waren herabgefallen und faulten auf dem Boden vor sich hin.
»Ich will nie wieder von der Gnade eines anderen Menschen abhängig sein«, murmelte er, mehr zu sich selbst, und Mohan lief es kalt den Rücken hinab ob der Härte in seiner Stimme.
»Komm«, er berührte Ian sanft an der Schulter, »wir müssen gehen. Der Raja will dich kennen lernen.«
Es war dämmrig, die Lampen schon entzündet. Dheeraj Chand erwartete sie in einem seiner Gemächer, in einem breiten, gepolsterten Stuhl aus geschnitztem Kirschholz, hinter dem ein bewaffneter Krieger mit wachsamem Blick stand. Ian, in einem neuen, eigens für ihn angefertigten hellen Anzug im Stil der Rajputenuniformen, den linken Arm noch in einer Schlinge und Mohan dicht hinter sich, musterte eindringlich den alten Mann in seiner bestickten Jacke und dem juwelenbesetzten roten Turban. Eine Weile sahen sie sich so an, Großvater und Enkel, ehe der Raja das Wort ergriff.
»Weißt du, wer ich bin?«
»Der Raja Dheeraj Chand«, antwortete Ian mit sicherer Stimme, »mein Großvater. Derselbe, der meine Eltern durch ganz Indien jagte, noch ehe ich geboren war, und der uns zwang, nach Delhi zu fliehen, wo ich meine Eltern und meine Schwester verloren habe«, setzte er scharf hinzu.
»Verzeiht, er – «, begann Mohan hastig, in dem Versuch, Ians Affront wieder gutzumachen, doch der Raja brachte ihn mit einer gebieterischen Geste seiner beringten Hand zum Verstummen.
»Genauso stand vor vielen Jahren dein Vater vor mir«, sagte der alte Chand nachdenklich, »und genau wie damals weiß ich nicht, ob ich dein Benehmen furchtlos oder anmaßend finden soll.«
Er stützte beide Hände auf seinen Spazierstock. »Er war nicht dumm, dein Vater. Vielleicht
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