Himmel über Darjeeling
zu berühren. Sie hatte ihre Hand schon ausgestreckt, um sie auf seine Schulter zu legen, und wagte es dennoch nicht. Doch er schien es gespürt zu haben und ergriff ihre Hand, ohne sie dabei anzusehen. Seine Hand war warm, weich und dabei kraftvoll, drückte ihre Finger sanft und doch bestimmt.
»Gute Nacht, Helena.«
»Gute Nacht, Ian.«
Ihre Hände lösten sich voneinander, und Helena ging über das Deck, in Richtung ihrer Kabine, in der Jason wohl schon selig schlief, und sie konnte nicht verhindern, dass ihre Schritte leicht und beschwingt waren.
8
S ieben Inseln um eine in das Arabische Meer hineinragende Landzunge, palmenbewaldet, sumpfig und malariaverseucht, vom Hochwasser bedroht, auf der Landseite von Ebenen umgrenzt, die zu grün gepolsterten Hügeln anstiegen – das war Bom Bahia , der Gute Hafen , den die Portugiesen Anfang des sechzehnten Jahrhunderts in Besitz nahmen. Abgesehen von einigen wenigen Fischerdörfern ein leerer Flecken Erde, aber ein natürlicher Hafen, der bald das Tor zum Westen Indiens wurde. Als Mitgift im Gepäck der portugiesischen Prinzessin Katharina von Bragança, die an Charles II. von England verheiratet wurde, ging er 1662 an die britische Krone. Und für den symbolischen Preis von zehn Pfund im Jahr pachtete die East India Company Bombay , wie es von nun an genannt wurde.
Mühsam, im Kampf gegen Malaria und das übermächtige Meer, wurden die Sümpfe trockengelegt und so Land hinzugewonnen, und auf den alten Mauern der portugiesischen Festungen entstand eine schnell wachsende Stadt, zweckmäßig und nüchtern, allein auf den Transport und Handel von Gütern ausgerichtet. Bombay als Drehscheibe des Handels zwischen West und Ost versprach Arbeit und Geld – und weil vor dem großen Gott Mammon alle sonstigen Unterschiede verschwinden, fanden sich Menschen unterschiedlichster Herkunft ein: Gujaratis aus dem Norden, aus der unmittelbaren Nachbarschaft des Hafens Marathen, die früheren Herrscher des Westens bis zu ihrer Niederlage gegen die englische Übermacht 1817; Jains, die Angehörigen einer asketisch lebenden Sekte aus Rajasthan; vor religiöser Verfolgung aus Persien flüchtende Parsen, dann Juden, Armenier, Sikhs, Chinesen; schließlich Hindus und Moslems aus allen Teilen des weiten Landes. Bombay wuchs und wucherte hinter der breiten Front der Docks zu einem Labyrinth an Speichern, Kontoren und Schlupflöchern seiner armen Massen, vernarbt von Bränden und eiligem Wiederaufbau – eine hässliche, ungeliebte Stadt, doch Stütze des Handelsimperiums von »John Company« , wie die East India Company oft neckend genannt wurde . Das Geld kam mit der weltweit steigenden Nachfrage nach Baumwolle, vor allem, als im fernen Amerika Nord gegen Süd einen blutigen Krieg ausfocht und von dort keine Baumwolle mehr nach England exportiert wurde. Prächtige Herrenhäuser entstanden im kühleren Hinterland, anglikanische Kirchen reckten stolz ihre Türme in den tropischen Himmel, und viktorianische Zuckerbäckerfassaden wurden im Stadtkern emporgezogen.
Mit einem Aufseufzen ließ Jane die Schlösser der letzten Kiste zuschnappen, die sofort von zwei mageren dunkelhäutigen Jungen geschultert und eilig davongetragen wurde. Sie wandte sich zu Helena um. »Das war alles. Wünschen Sie noch etwas, Madam?«
Helena sah sich einen Moment lang in der Kabine um, die in den vergangenen drei Wochen ihr Zuhause gewesen war. Sie schüttelte den Kopf.
»Nein danke, Jane.«
Das junge Dienstmädchen, nur wenig älter als sie selbst, sah sie prüfend an.
»Sie sollten an Deck gehen, Madam. Mr. Neville wartet gewiss schon oben auf Sie.«
Helena gab sich einen Ruck. Der Schritt ins Abenteuer ließ sich vielleicht hinauszögern, aber nicht vermeiden. »Sie haben Recht, lassen Sie uns gehen.«
»Dann verabschiede ich mich von Ihnen und wünsche Ihnen alles Gute.« Jane versank in einen tiefen Knicks.
Helena sah sie verständnislos an. »Sie – Sie kommen nicht mit?«
Jane lachte auf. »Oh nein, Madam. Keine zehn Pferde brächten mich in dieses Land! Mr. Neville hat mich für diese Überfahrt sehr gut bezahlt, aber mein Platz ist und bleibt im Haus am Grosvenor Square. Meine Passage zurück ist bereits gebucht. Ich werde hier noch etwas Ordnung machen«, sie sah sich in dem bereits tadellos aufgeräumten Raum um, »und dann die nächsten drei Wochen einfach einmal nichts tun. Zu Hause gibt es dann wieder genug Arbeit – das Haus muss immer tadellos sein, schließlich wissen wir nie
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