Himmel über Darjeeling
den Ärmeln von Helenas eierschalfarbenem Kleid, die Hände bittend ausgestreckt.
»Memsahib, Memsahib , rupee, rupee «, riefen sie. Helena sah Ian erschrocken und bittend an, aber er schüttelte warnend den Kopf und befreite sie unter lauten Flüchen auf Hindustani, die er den Kindern entgegenschleuderte, aus dem Klammergriff. » Djaoo! Djeldii , haut ab«, schimpfte Mohan Tajid und schlug mit heftigen Hieben die Arme, die sich auf der anderen Seite in den Wagen streckten, wieder hinaus, während Jason sich mit entsetzt geweiteten Augen an Helena drückte.
»Weshalb nicht?« Helena funkelte Ian zornig an. »Du hast ja wohl genug!«
»Eben deshalb. Würde ich ihnen etwas zustecken, so spräche sich schneller herum, als du zwinkern kannst, dass hier ein freigebiger Sahib herumfährt. Noch ein Blinzeln, und wir wären von einem Mob umgeben, der auch nicht davor zurückschrecken würde, uns am helllichten Tag mitten auf der Straße die Schädel einzuschlagen, um alles mitzunehmen und zu Geld zu machen, was nicht niet- und nagelfest ist.« Helena sah ihn misstrauisch an, und er erwiderte ruhig ihren Blick. »Glaub mir, es gibt andere Mittel und Wege, diesen Menschen zu helfen, und zwar ohne sie zu demütigen.«
»Nämlich?« Helenas Stimme klang noch immer scharf.
»Indem ich sie gegen faire bis gute Bezahlung für mich arbeiten lassen. Und es sind viele, die das tun.«
Plötzlich wurde Helena bewusst, dass er noch immer ihre Hand festhielt und dabei leicht mit dem Daumen über ihre Handfläche strich. Sie hätte sie ihm gerne entzogen – und gleichzeitig schickte diese sanfte Berührung wohlige Schauer durch ihren Körper. Als hätte er es ihr angesehen, schlich sich ein kleines Lächeln auf sein Gesicht.
»Deine Augen sind sehr reizvoll, wenn du wütend bist.«
Helena errötete und zog verärgert ihre Hand zurück, vergrub sie in der anderen, die in ihrem Schoß lag, doch sie glühte noch lange von Ians Berührung, und während sie mit trotzig vorgeschobenem Kinn auf die Straße hinausstarrte, sah sie, wie Ian sie immer wieder mit einem halb amüsierten, halb spöttischen Lächeln um die Mundwinkel musterte.
Nur langsam kam der Wagen voran. Was Helena sah, machte auf sie einen überwältigenden Eindruck. Händler, die ihre Waren auf der Straße ausbreiteten – Geschmeide aus in der Sonne glitzerndem Silber und Gold, Gewürze in Oliv, Orange, Gelb, allen erdenklichen Schattierungen von Braun und Rot, leuchtend bedruckte und bestickte Stoffballen in Rosa, Türkis, Königsblau, in Scharlach, Grün, Violett, die sich in der Kleidung der vorüberhastenden Frauen wiederholten, die aus einer endlosen Stoffbahn bestand, dem Sari , wie Mohan Tajid ihr erklärte, der nach einem festgelegten Muster um den Körper gewickelt wurde und mit dessen Ende viele davon ihr Haupt verhüllten; zerlumpte und verkrüppelte Bettler, die sich in die Schatten der schmutzigen Hauswände kauerten; magere Kühe, die sich gleichgültig wiederkäuend durch die Mengen schoben. Und Menschen, immer wieder Menschen, lärmende, schwitzende, drängende Menschen – breite Gesichter und eingefallene, vor Leben blitzende und wie tot wirkende, manche hellhäutig, manche fast schwarz, mit schwarzem Haar oder braunem, eilig dahinhastend oder apathisch an einer Ecke stehend oder sitzend, Männer, Frauen, Kinder, Greise.
Central Station,ein steinerner Bau mit Glasdach, wie er auch in einer englischen Stadt hätte stehen können, war die Endstation ihrer Kutschfahrt. Immer noch drängten sich Menschen an ihnen vorüber, aber drei Inder, ihre scharlachroten Turbane leuchtend grell über der weißen Uniform, geleiteten sie sicher ins Innere des Bahnhofs, wo der Zugang zu einem der Gleise mit einer roten Kordel abgesperrt war. Ein Wagen hinter einer bereits schnaubenden Lokomotive wartete auf sie, vielleicht zehn Meter lang, mit einer Front aus rötlich schimmerndem Holz und breiten Fenstern, die den Blick freigaben auf einen schmalen Gang, von dem Türen zu den einzelnen Compartments führten.
Einer der Inder half gerade Helena die Stufen hinauf, als ein lautes Rufen sie innehalten ließ.
» Huzoor, huzoor !« Ein kleiner, schmaler Mann keuchte heran, mit einem Umschlag winkend, den er mit einer tiefen Verbeugung und einem Wortschwall Hindustani – zu schnell, als dass Helena ein Wort davon verstanden hätte – Ian überreichte. Ian runzelte die Stirn und riss den Umschlag ungeduldig auf, während der Bote schwer atmend auf eine Reaktion seines
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