Himmel über dem Kilimandscharo
Deutschland und England trafen ein. Ettje berichtete von der schweren Lungenentzündung ihres Mannes, die gottlob vorübergegangen sei; die Großmutter sei wohlauf und habe sich der Enkel angenommen, während sie selbst ihren Mann pflegen musste. Paul sei im Amt aufgestiegen und inzwischen verlobt, er wolle bald heiraten und mit seiner Frau ins Haus der Großmutter einziehen. Pastor Harm Kramer und Tante Edine sprachen ihr tiefstes Mitgefühl aus, wünschten Kraft und Gottes Segen, Menna schloss sich mit kurzen Worten an. Auch Marie schickte einen langen Brief, erzählte vom Gedeihen ihrer Kinder, von den wunderbaren Schwiegereltern, von befreundeten adeligen Familien, die Charlotte gänzlich unbekannt waren, und schloss mit der Bemerkung, dass eine junge Frau nicht für den Rest ihres Lebens eine trauernde Witwe bleiben müsse. Einige Wochen später brachte der Briefträger ein flaches Paket, das in Kairo aufgegeben worden war. Es enthielt ein Buch, dazu einen Brief von George. Er schien von Christians Tod nichts erfahren zu haben, denn er ließ ihn unerwähnt. Stattdessen schickte er neue Manuskripte mit der Bitte um Durchsicht, dazu sein gerade erschienenes Buch Ein britischer Arzt im Land der Pharaonen, das er vor allem ihr gewidmet habe. Tatsächlich fand sich eine Vorbemerkung in kursiver Schrift, der Autor bedanke sich bei Charlotte O. für die fleißigen Korrekturen, vor allem aber für die Anteilnahme und Ermutigung, ohne die dieses Buch niemals entstanden sei.
Er war also wieder in Kairo– wie seltsam, dass Marie nichts davon geschrieben hatte. Charlotte legte das Buch ungelesen zur Seite; sie hatte Scheu davor, sich auf Georges Schriften einzulassen, auch die Manuskripte blieben unkorrigiert. Sie hatte andere Sorgen.
Mitte Oktober stiegen die ersten, regenschweren Wolken am Horizont auf, ein graues Gebirge, das sich aus dem Meer erhob und die Sonne verdüsterte, dunkel und bedrohlich und doch sehnlichst erwartet. Das Land war ausgetrocknet, der rötliche Erdboden in Spalten gerissen. Am frühen Morgen entluden sich die Spannungen über der Bucht in krachenden Donnerschlägen, Blitze zuckten wie gleißende Pfeile über den Himmel, zerschlugen Strommasten und fällten uralte Palmen. Dann endlich strömte der Regen zur Erde.
Charlotte hatte den Laden trotz der Wasserfluten geöffnet. Sie hoffte, dass vielleicht doch ein paar Kunden vorbeikämen, die sich in ihrer Freude über den Beginn der Regenzeit nicht scheuten, klatschnass zu werden. Es liefen jedoch nur einige schwarze Kinder auf der Straße herum, führten jubelnde Regentänze auf, und wenn tatsächlich einmal eine weibliche Gestalt zu sehen war, dann eilte sie geduckt an Charlottes Laden vorüber, um anderswo ihre Einkäufe zu tätigen. Gierig atmete Charlotte den Geruch des Regens ein, diesen seltsam schweren Duft, in dem sich Erde und Wasser miteinander verbanden, diese erregende Verheißung auf Blüten und Früchte, auf neues Leben, vielleicht auf Glück. Es war ein Jahr her, dass sie hier gestanden und sich an diesem feuchten Duft berauscht hatte. Damals hatte sich eine Gestalt aus dem Regen gelöst, ein Mann war zu ihr in den Laden getreten, und sie hatte für eine kurze Zeit geglaubt, dass Gott ein Wunder geschehen ließe. Dass die Vergangenheit umkehrbar war, dass Sehnsüchte erfüllt werden könnten…
» Frau Ohlsen?«
Sie erschrak, denn sie hatte die beiden Männer wegen des prasselnden Regens nicht kommen hören. Es waren zwei junge Inder, die sich mit Schirmen vor den herabstürzenden Fluten schützten, damit ihre Jacken aus schönem, safrangelbem Tuch nicht vom Wasser verdorben wurden.
» Was kann ich für Sie tun?«
Sie traten lächelnd in den Laden, klappten die Schirme zu und sahen sich um. Nicht mit den Augen von Käufern, die sich für bestimmte Waren interessierten, sondern mit prüfenden, neugierigen Blicken, die Charlotte verdächtig vorkamen.
» Wir haben Ihnen einen Vorschlag zu machen.«
Der Sprecher war ein gut aussehender Mensch mit glattem, zimtfarbigem Teint und hellbraunen Augen, auf seiner Oberlippe stand ein kleines, schwarzes Bärtchen.
» Was für einen Vorschlag?«
Vermutlich hatten sie erwartet, zum Niedersetzen eingeladen, vielleicht sogar mit Tee und Gebäck bewirtet zu werden, doch Charlotte hatte keine Lust dazu. Ihre deutlich ablehnende Haltung quittierten die beiden mit undurchsichtigem Lächeln. Das gleiche Lächeln, das sie so oft bei Kamal Singh gesehen hatte.
» Es wäre doch schade, wenn die
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