Himmel über dem Kilimandscharo
ihrer Schwester aus, denn sie bestand darauf, dass Ettje rechts des Gastes sitzen sollte. Schließlich saß Menna schon zu seiner Linken, das musste ja wohl reichen.
Charlotte und Marie trugen die Schüsseln auf, und der Großvater wartete, bis auch sie ihre Plätze eingenommen hatten, bevor er das Tischgebet sprach und den Gast noch einmal im Kreise seiner Familie willkommen hieß. Jetzt endlich hatte Charlotte Gelegenheit, sich die Ursache all dieses familiären Wirbels von der Vorderseite anzuschauen.
Eigentlich war nichts Ungewöhnliches an George Johanssen festzustellen, auch keinerlei Anzeichen einer hochadeligen Abkunft, die Tante Fanny so herausgestrichen hatte. Er hatte graue Augen und buschige, hellblonde Augenbrauen, seine Nase war schmal, aber gerade, das blonde Haar an der Seite gescheitelt und über den Ohren kürzer als im Nacken geschnitten. Was Charlotte am meisten an George auffiel, war seine Art, Menschen oder Gegenstände für einen kurzen Moment scharf zu fixieren, als versuche er, hinter dem äußeren Schein etwas anderes, Verborgenes zu erkennen. Er tat das, wenn ihm ein Familienmitglied vorgestellt wurde, aber auch unvermittelt während eines Gesprächs oder wenn er in der Stube umhersah und ihm eine Nippesfigur, eine Topfpflanze oder ein Bild ins Auge sprang. Ansonsten war er recht redselig, stellte viele Fragen und hatte die Begabung, alle, sogar Klara, in ein unbefangenes Gespräch zu verwickeln. Das Herz der Großmutter gewann er im Sturm, als er ihre Küche lobte und sich zu der Bemerkung verstieg, in England niemals solch leckere Speisen gegessen zu haben. Er zauberte rote Flecken auf Tante Fannys Wangen, als er bereitwillig dreimal von dem dringlich angebotenen Fleischteller nahm, und er brachte Ettje zum Lachen, indem er ihr seine Kenntnisse des friesischen Platt vorführte.
Charlotte sah er zweimal auf seine merkwürdige Weise an. Einmal, als Marie sie ihm vorstellte, das zweite Mal, als Klara ihm berichtete, Charlotte spiele sehr gut Klavier. Doch sie saß zu weit von ihm entfernt, als dass sie ein Gespräch hätten führen können. Charlotte war das recht so, unterhielt sie sich doch sowieso viel lieber mit Marie und Henrich, dem jüngeren Bruder der beiden Cousinen. Henrich war ein freundlicher, harmloser Bursche, der gerade um sein Abitur kämpfte und auf Wunsch des Vaters später Theologie studieren würde.
» Magst du nicht heute Abend zum Tanz aufspielen, Charlotte?«, rief Menna über den Tisch hinweg. » Wir räumen die Stube leer, dann haben wir Platz genug. Peter Hansen will auch kommen.«
Charlotte kratzte die letzten Bohnen aus der Schüssel und tat, als habe sie nichts gehört. Nicht im Traum hätte sie daran gedacht, für die Cousinen und ihren englischen Gast als Tanzpianistin herzuhalten, dazu war die Musik ihr viel zu kostbar. Sie hatte in den vier Jahren enorme Fortschritte gemacht, spielte große Sonaten von Beethoven, Mozart und Scarlatti, auch Walzer von Chopin und Mendelssohns Lieder ohne Worte. Sie hatte sich sogar mit Kantor Pfeiffers geliebtem Johann Sebastian Bach angefreundet. Sein » Italienisches Konzert« gefiel ihr am besten, mit der Kunst der Fuge plagte sie sich eher ihrem Lehrer zuliebe herum, und doch spürte sie den spröden Reiz dieser Stücke, die nicht nur das Gefühl, sondern auch den musikalischen Verstand forderten. Vor allem aber war die Musik ihre Zuflucht, der einzige Ort, der nur ihr allein gehörte, eine Zauberwelt, in der sich die Klänge auf geheimnisvolle Weise zu Farben und Düften wandelten, zu Landschaften von beglückender Schönheit.
» Komm schon, Charlotte«, bettelte Ettje, die inzwischen tatsächlich ihren Pickel auf der Stirn vergessen hatte, vor allem, weil der junge Engländer so unbeschwert mit ihr plauderte und sich an diesem Makel gar nicht zu stören schien. » Dann hätte sich das viele Geld für die Klavierstunden endlich mal gelohnt!«
» Ich habe für so was keine Noten!«
» Marie hat welche ausgeliehen und mitgebracht.«
Cousine Marie, die inzwischen dreiundzwanzig Jahre zählte und mit einem jungen Assessor aus Emden verlobt war, lächelte Charlotte gewinnend an, nur ein ganz klein wenig spürte man ihr schlechtes Gewissen. Aha, sie hatten diesen Anschlag von langer Hand geplant! Weder Marie noch Menna hatten es auf dem Klavier weit gebracht, obgleich sie eine Weile Unterricht gehabt hatten.
» Der Großvater will gewiss nicht, dass hier im Hause getanzt wird«, hielt Charlotte stur dagegen.
Tanzen
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