Himmel über dem Kilimandscharo
theologische Gespräche vertieft, während Paul, Menna und Ettje sich mit dem Flohspiel vergnügten. George hatte bei Marie und Tante Edine gesessen, jetzt erhob er sich und winkte Charlotte zu.
» Ich habe Noten mitgebracht, Charlotte. Lass uns ein paar vierhändige Stücke miteinander versuchen.«
Wenn er geglaubt hatte, ihr damit eine Freude zu machen, dann hatte er sich gründlich verrechnet. Jetzt wusste sie, dass auch er Klavier spielen konnte, was er damals listig verschwiegen hatte. Der Grund war klar: Er hatte mit Marie tanzen wollen, anstatt am Klavier sitzen zu müssen.
» Ein andermal«, erwiderte sie kühl. » Ich habe mir einen Fingernagel eingerissen, das stört sehr beim Spielen.«
George sah sie auf seine eigene, intensive Weise an, dann schwand das Lächeln aus seinem Gesicht, ganz offensichtlich hatte er ihre Botschaft verstanden. Von schlechtem Gewissen zeugte seine Miene keineswegs, eher wirkte er verdrossen.
» Dann eben nicht!«
Er wandte sich schulterzuckend ab und kümmerte sich für den Rest des Besuches nicht mehr um sie. Charlotte verspürte etwas wie einen Triumph. Sie hatte ihm gezeigt, was sie von ihm hielt, das würde er sich merken. Erst am Abend, als George in Mantel und Hut draußen bei der Kutsche stand, um den Frauen beim Einsteigen behilflich zu sein, wurde ihr beklommen zumute. Nun würde er fortreisen, zuerst nach Emden und dann zu seinen Eltern nach England, um erst im Frühjahr zurückzukommen. War sie ungerecht gewesen? Immerhin hatte er ein Buch für sie gekauft, von dem er glaubte, es würde ihr gefallen. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie rasch zu ihm gehen sollte, um ihm zu sagen, dass er durchaus ihren Geschmack getroffen hatte. Doch als sie den Fuß hob, um zur Kutsche zu eilen, war er bereits eingestiegen. Niemand konnte es ihm verdenken– es regnete, und der Wind war eisig. Der Kutscher trieb die Pferde an, und das rasselnde Gefährt verschmolz in Dämmerung und Nebel bald zu einem formlosen Klumpen, eskortiert vom zitternden Schein der beiden Kutschenlaternen.
Oktober 1892
Christian Ohlsen hielt die Arme hinter dem Rücken verschränkt und blickte durch die Ladenscheibe in das Gewimmel auf der Pfefferstraße. Er mochte den Gallimarkt nicht besonders, obgleich die Markttage immer viel Volk aus der Umgebung anzogen und sogar Leute aus Emden und Aurich mit der Bahn nach Leer gereist kamen. Aber die Konkurrenz war hart: Die auswärtigen Händler mieteten sich überall in der Pfefferstraße ein und boten außer Wäsche, Schuhen und allerlei Stoffen leider auch preiswerten Kaffee oder Tee an. Wenn überhaupt, dann machte Ohlsen nur mit Naschwerk oder dem Kleinzeug Geschäfte, das er von indischen Händlern aus Hamburg bezog. Amulette, Tierhörner, kleine Schnitzereien aus Holz und Elfenbein oder auch eingelegte Kästchen, die wie winzige Schatztruhen aussahen. Wobei man die Augen überall haben musste, denn der Markt zog auch jede Menge Betrüger und Langfinger in die Stadt, die kleine Gegenstände mit meisterhafter Geschicklichkeit in ihren Jackentaschen verschwinden ließen. Gegen Abend, wenn die Vergnügungssüchtigen durch die Pfefferstraße auf den Marktplatz zogen, wo die Schaubuden standen, musste man die Verkaufstische vor dem Laden schnellstens wieder forträumen und das Geschäft dichtmachen.
Junge Burschen rotteten sich zusammen und maßen ihre Kräfte bei allerlei Spielen, spendierten ihren Deerns Bärendreck und klebriges Zuckerzeug oder sogar eine Sitzung bei der Wahrsagerin. Familienväter ließen ihre Brut auf dem Karussell fahren und zahlten zähneknirschend den Eintritt zur Menagerie oder den Blick durch ein » Stereoskop«, wo man fotografische Naturaufnahmen sehen konnte, die angeblich von der echten Natur nicht zu unterscheiden waren.
» Zieh das Gitter vor, und schließ es ab!«, rief Christian dem Lehrling zu. » Danach wischst du den Laden, und dann kannst du gehen.«
Der Lehrling hieß Julius und war der jüngste Sohn eines ortsansässigen Schneiders– ein flinkes, schmales Kerlchen mit rotblondem Haar, das keineswegs dumm war. Sein Vorgänger war vor einem halben Jahr mit Eltern und Geschwistern nach Amerika ausgewandert– wie so viele Leute aus Leer, die hier keinen Boden mehr unter die Füße bekamen.
Ein Pulk junger Kerle zog draußen vorüber, auch eine Frau war darunter. Es waren Bauernsöhne aus den umliegenden Dörfern, die vermutlich lange gespart hatten, um sich hier auf dem Markt ein paar Gläser Branntwein und
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