Himmel über dem Kilimandscharo
nahm die Nachricht mit erstaunlicher Gelassenheit auf. Nur abends in den Betten, als Klara sie tröstete, George hätte sowieso nicht zu ihr gepasst, brach der Kummer aus ihr heraus, und sie fauchte die Schwester böse an:
» Schau du lieber selber, dass du einen abbekommst! Du mit deinem Humpelbein!«
» Lass sie«, sagte Klara besänftigend, als Charlotte auf Ettje losgehen wollte. » Sie hat es nicht so gemeint.«
Als Tante Fanny zu Bett ging, schloss sie das Fenster, da die kühle Nachtluft angeblich der Lunge schade. In Wirklichkeit hatte sie panische Angst vor Einbrechern und anderen männlichen Gestalten, die ihrer Meinung nach draußen im Dunkeln lauerten, um ahnungslose Schläferinnen zu überfallen. Es wurde stickig in der Schlafkammer, die schweren Federbetten waren durch Leintücher ersetzt worden, doch die langen, hochgeschlossenen Nachthemden waren Pflicht, und so lagen die Mädchen schwitzend in den Kissen. Ettje war trotz der Wärme und ihres Ärgers bald eingeschlafen, Klara hatte die Augen geschlossen und bewegte sich nicht, doch Charlotte wusste, dass sie noch wach war.
» Bist du traurig?«, flüsterte Klara plötzlich.
» Es ist so heiß, ich kann nicht einschlafen.«
Zum ersten Mal seitdem sie im Haus der Großeltern lebte, wünschte sich Charlotte ein eigenes Bett, denn dann hätte sie Klara jetzt nicht belügen müssen. Klara spürte, wenn sie unglücklich war, sie merkte es an ihren Bewegungen, an ihrem Atem, an ihrem Pulsschlag. Charlotte hatte ihrer Cousine von ihrem Gespräch mit George erzählt, doch ganz gegen ihre Gewohnheit war sie dabei sehr zurückhaltend gewesen, hatte nur berichtet, dass George die fernen Länder liebe und später wohl nach Übersee reisen wolle. Nichts von dem gebrochenen Damm ihrer Gefühle, von ihrer Beglückung, einen Gleichgesinnten gefunden zu haben; auch jenen so entscheidenden Satz, den George nicht zu Ende geführt hatte, hatte sie für sich behalten. Sie wollte nicht getröstet werden. Der Schmerz, der ihr die Seele abdrücken wollte, gehörte ihr allein, niemand sollte davon erfahren, nicht einmal Klara. Es gab keinen fassbaren Grund für diesen abgrundtiefen Kummer, und außerdem: Weshalb sollte George Marie nicht heiraten? Sie war schön, hatte ein bezauberndes Lächeln und eine Figur wie ein Modell, sie war beweglich und fröhlich– ganz so, wie ein junges Mädchen sein sollte, in das sich ein junger Mann verlieben konnte. Marie hatte schon viele Bewerber abgewiesen, nur auf den dringenden Wunsch ihrer Eltern war sie die Verlobung mit dem jungen Assessor aus Aurich eingegangen, und jetzt, kurz bevor es zu spät war, hatte sie die große Liebe ihres Lebens kennengelernt. Charlotte konnte Marie nur allzu gut verstehen– sie selbst an ihrer Stelle hätte genauso gehandelt.
Weshalb dann aber dieser Schmerz, der sich so schwer auf ihr Herz legte? War es der Gedanke, dass dieses Gespräch, das ihr so unendlich viel bedeutet hatte, für George nur eine kleine unwichtige Plauderei gewesen war? So unbedeutend und nebensächlich, dass er sie bald wieder vergessen hatte? Ja, damit hatte es zu tun. Sie hatte ihm ihr Innerstes geöffnet und Dinge preisgegeben, die nur Klara wusste und sonst niemand. Das, was sie für ernsthafte Anteilnahme, für eine Art Seelenverwandtschaft gehalten hatte, war nichts als oberflächliches Gerede gewesen und vergessen, als Marie auftauchte– hübsch, verführerisch, mit einem koketten Lächeln im Gesicht. In Wahrheit hatte er sich über sie, die » kleine indische Prinzessin mit den Tigeraugen«, wohl nur lustig gemacht. Tante Fanny hustete, dann setzte sie sich im Bett auf, um schnaufend nach einer Stechmücke zu schlagen, die sie drangsaliert hatte. Charlotte bewegte sich nicht. Plötzlich empfand sie Mitgefühl für ihre Tante, deren Hoffnungen ebenfalls herb enttäuscht worden waren. Hatte George nicht auch mit Ettje gescherzt, ihr zu verstehen gegeben, dass sie ihm gefiel? Ja, er war ein Blender, er hatte sie alle über seine wahren Absichten getäuscht, hoffentlich meinte er es wenigstens mit Marie ernst und kam nicht auf die Idee, die Verlobung nach ein paar Monaten wegen einer anderen zu lösen.
Der Sommer wich dem Herbst, kühle Winde rissen an dem welkenden Laub, Regengüsse hinterließen breite Rinnen und glitschige Pfützen auf den Straßen. Wenn die Sonne zwischen den Wolken durchblickte, leuchteten die letzten Blätter ockergelb und dunkelgrün, und einige der Backsteinhäuser glühten in warmem Rot. Doch
Weitere Kostenlose Bücher