Himmel über London
und Steinbeck. Plus all die obligatorischen Schweden, die Studienrat Pollander ihnen in die Hände gab: Bergman, Söderberg und Dagerman. Und Strindberg, obwohl der etwas anderes war. Ja, immer mehr hatte er die Anziehungskraft der Welt der Bücher gespürt. Während der Osterferien hatte er krank im Bett gelegen und die ganze Auswandererreihe von Moberg gelesen, und als er am Abend, bevor die Schule wieder anfangen sollte, kurz nach Mitternacht den »Letzten Brief nach Schweden« zugeschlagen hatte, da hatte er gedacht, dass er, sollte ihm sonst nichts in seinem Leben glücken, zumindest zusehen wollte, ein Buch zu schreiben.
Es war ein Gedanke, der sich festsetzte. Nicht nur in diesem Frühling und Sommer, er sollte ihn viele, viele Jahre lang verfolgen, ja, bis zu seinem Tod, wie ein Muttermal, eine Charaktereigenart oder ein physischer Defekt, mit dem man nichts machen konnte. Als er nach einem misslungenen Selbstmordversuch ein paar Jahre später aufwachte, war das eines der ersten Dinge, die in seinem umnebelten Hirn auftauchten; wolltest du dir wirklich das Leben nehmen, bevor du dieses Buch geschrieben hast, du verfluchter Feigling?
Doch das lag noch in ferner, unbekannter Zukunft. Jetzt schrieb man den Sommer 1968, Lars Gustav Selén war neunzehn Jahre alt, und das Erwachsenenleben hockte in den Startlöchern. Anfang Juli machte er einen symbolischen Schritt in das Neue, indem er sich von seinen beiden Hobbys trennte, mit denen er seit seinem zwölften Lebensjahr viel Zeit verbracht hatte. Das Sammeln von Etiketten von Streichholzschachteln und von Todesanzeigen. Beides war ordentlich auf schwarzer Pappe in insgesamt vierzehn Alben eingeklebt, vier mit Etiketten, zehn mit Annoncen. Er kündigte seine Mitgliedschaft in der EAML, European Association of Match Lovers, und schickte seine Sammlung in einem großen Paket an einen Gleichgesinnten in Brügge in Belgien. Die Todesanzeigen, die er an jedem Werktag seit mehr als acht Jahren aus der lokalen Zeitung ausgeschnitten hatte – sowie eine gewisse Anzahl aus Dagens Nyheter und Svenska Dagbladet –, verbrannte er in einem alten Benzinfass auf dem Hinterhof. Und während er dort stand und mit einem Armierungseisen von Nilssons in der Glut stocherte, dachte er, dass genau das, so eine symbolische Reinigung, eine posthume Einäscherung, nötig war in diesem wichtigen Abschnitt seines Lebens. Raus mit dem Alten, rein mit dem Neuen. Es war die Zeit für bisher nicht versuchte Worte und Taten. Wie wahr.
Carla Carlgren war seit Mittsommer verreist gewesen – es war ein wenig unklar, wo sie sich befunden hatte, doch er dachte, dass sie vielleicht ihren Spionvater im Gefängnis besucht hatte. Das hätte er selbst getan, wenn sein eigener Vater Spion gewesen wäre und nicht tot. Auf jeden Fall kehrte Carla am 18. Juli nach K. zurück, nur zwei Tage vor der Abreise nach Göteborg, Immingham und London. Sechs der Passagiere trafen sich am selben Abend bei Elfrideviks Camping und Minigolf, um sich abzusprechen und zu planen. Die beiden, die fehlten, das wa ren Snukke Toivonen und Birgitta Lunner, von Ersterem hatte man den ganzen Monat nichts gehört, und es war unsicher, ob er immer noch die Absicht hatte, mitzufahren, Letztere war wegen einer Familienangelegenheit verhindert. Warum sie gezwungen war, so einem Mist den Vorzug zu geben, das konnte Leo Wermelin nicht genauer erkären, aber es war sicher nicht nur Lars Gustav Selén, der ahnte, dass hier etwas im Busche war. Auf jeden Fall hatte jeder für sich die Zug- und Fährfahrkarten gebucht, man war ja wohl bitte schön keine Gruppenreise, wie Stig Lennon betonte, eine Unternehmungsform, die zu dieser Zeit in der bürgerlichen Klasse in Mode kam, und von der musste man sich auf jeden Fall distanzieren. Sie selbst waren freie Individuen in einer Welt von peace, love and understanding. Capisce?
Während man sich also absprach und plante, spielte man eine Partie Minigolf und trank Wodka-Lemon mit dem Strohhalm aus zwei Thermoskannen, die Nisse Hallgren im Rucksack mitgebracht hatte. Der Abend erschien fast verzaubert, wie Lars Gustav fand, und hinterher gingen er und Carla gemeinsam nach Hause, sie wohnten ja in derselben Richtung. An diesem Abend durfte er nicht mit hoch auf ihr Zimmer, da ihre Mutter Arbeitskollegen zum Essen eingeladen hatte, und da passte es nicht, stattdessen saßen sie eine Weile auf einer Bank im Brandstationspark und küssten sich, bis sie sich verabschieden mussten. Küssten sich,
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