Himmel über London
Gustav war sich sicher, dass sein Vater Teodor dort oben im Himmel zu seinem einfachen Plan zustimmend nickte, dabei aber möglicherweise darauf hinwies, dass ein gewisser Doktor Holmgren immer noch auf der Erde wandelte, als wenn nichts geschehen wäre. Dieser verfluchte Arzt.
Doktor Holmgren ist nicht mein Problem, pflegte Lars Gustav vor sich hin zu murmeln, wenn er in der Herbstfinsternis auf der Badhusgatan stand und zu Carlas schwarzem Fenster hochstarrte. Absolut nicht. Es ist Leo Wermelin, der mein Leben zerstört hat. Er ist es, der mein Opfer werden muss.
Doch durch das Spiel des Schicksals oder der Zufälle wurde er auch um diesen Leckerbissen betrogen. Es war Anfang Mai 1970, ziemlich genau zwei Jahre waren vergangen seit dem Abend im Bett in Carlas Zimmer, und es war bei Nilssons Beton, wo er das erste Mal davon hörte. Er hatte eine Woche nach der Beerdigung der Tante wieder angefangen, dort zu arbeiten, seine Fantasie und sein Lebenswille hatten nicht ausgereicht, um andere Möglichkeiten zu erkunden.
Während der vormittäglichen Kaffeepause, an einem Donnerstag, sagte Olle Nicko:
»Da sind gestern ein paar Jugendliche aus K. in London umgekommen. Kanntest du die?«
Er gab keine Antwort. Hörte auf, sein Käsebrot zu kauen, und betrachtete Nickos finstere Visage.
»Ich dachte, vielleicht kennst du sie ja. Sie waren in deinem Alter.«
Plötzlich hatte er einen Metallgeschmack im Mund, und er spürte, wie ihm etwas kalt über den Rücken lief. Von unten nach oben sonderbarerweise. Gelbe Flecken tauchten am Rande seines Gesichtsfelds auf.
»Wie hießen sie denn?«, wollte Kalle Svensson wissen. »Und was hatten sie in London zu suchen?«
Olle Nicko und Kalle Svensson legten ihre Stirn in Falten und dachten nach. Über welche der beiden Fragen, das war nicht auszumachen, vielleicht auch über keine von beiden. Sie waren beide schon sechzig, hatten gemeinsam bei den Armierungen gearbeitet, so lange es Beton auf der Welt gibt, und das Einzige, was sie während der Pausen diskutierten, das waren Angelmethoden und die Frage, was man denn machen sollte, wenn man das reife Alter erreichte. Das heißt, in Rente ging. Das heißt, abgesehen vom Angeln.
»Das haben sie nicht gesagt«, konstatierte Olle Nicko nach einer Weile. »Ich habe es heute Morgen im Radio gehört. Sie werden wohl zuerst die Familien und so aufsuchen. Aber es waren jedenfalls zwei Jugendliche aus K. In der U-Bahn in London.«
»Ich würde nie im Leben mit so einer U-Bahn fahren«, sagte Kalle Svensson. »Das ist doch klar, dass so etwas schiefgehen muss.«
Die Bestätigung kam am selben Abend per Telefon. Es war Nisse Hallgren, der anrief, er hatte Probleme, die richtigen Worte zu finden, und noch bevor er herausgebracht hatte, worum es eigentlich ging, dachte Lars Gustav, dass so etwas noch nie vorgekommen war. Dass Nisse Hallgren ihn anrief, und allein diese simple Tatsache sagte ihm alles. In einem vergeblichen Versuch, das Unwirkliche noch aufzuhalten, wollte er schon den Hörer wieder auflegen, aber es war bereits zu spät. Alles war bereits zu spät.
»Verdammte Scheiße, hast du gehört?«, fragte Nisse Hallgren. »Leo und Carla sind tot. Sie sind gestern Abend von einer U-Bahn überfahren worden. Verdammte Scheiße.«
Wahrscheinlich überbrachte er noch einige erklärende Informationen, doch hinterher, nachdem das kurze Gespräch beendet war, konnte Lars Gustav sich an nichts anderes als an den Tod und den Namen der U-Bahn-Station erinnern. Covent Garden.
Covent Garden.
Die Beerdigung von Leo Wermelin und Rigmor Carla Carlgren fand in einer gemeinsamen Zeremonie in der schönen Kirche von K. statt, und diese war bis auf den letzten Platz besetzt. Angaben zufolge hatten auch noch Leute in den Gängen und ganz hinten gestanden, und die Tränen flossen reichlich. Zwei Menschen, in der Blüte ihrer Jugend, waren verunglückt und auf grausame, unfassbare Art und Weise aus dem Leben gerissen worden. Ihre Körper waren von einer heranbrausenden Bahn in einem fremden Land zermalmt worden, durch die ungehemmte Sinnlosigkeit des Schicksals und des Todes, und die Flaggen wehten fast überall in K. auf Halbmast, sogar am Rathaus auf dem Marktplatz.
Lars Gustav Selén nahm nicht an der Zeremonie in der Kirche oder an der Beerdigung teil, doch er blieb drei Wochen lang zu Hause, ging nicht zur Arbeit. Eines Abends Mitte Juni saß er in der Bibliothek und las die spärlichen Informationen, die es im vierten Band des Nordischen
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