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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Wasser in ein zweites Glas und reichte es mir. Ich nahm es entgegen, merkte, dass meine Hände zitterten, mein Körper fühlte sich immer noch wackelig an, doch es gelang mir, mich aufzusetzen und einige Schlucke zu trinken.
    »Danke.«
    »Bitte.«
    »Maddox?«, erinnerte ich mich. »Ich sollte …«
    Er hob abwehrend die Hand, und ich verstummte.
    »Hier gibt es keinen Maddox. Was hast du mit deinem Schatten gemacht?«
    »Ich … ich habe nie einen Schatten bemerkt.«
    Seine Augen wurden schmal wie zwei Rasierklingen, und er berührte kurz mit einem Mittelfinger den Käfer. »Dein Schatten saß von Paddington bis Oxford im selben Wagen wie du. Er stieg fünf Sekunden nach dir aus. Was ist mit ihm passiert?«
    »Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nie bemerkt.«
    »Nie bemerkt?«
    »Nein, ich dachte …«
    »Es interessiert uns nicht, was du gedacht hast. Aber es interessiert uns, dass du lügst.«
    »Ich lüge nicht. Warum sollte ich?«
    »Du stehst in Verbindung zu einer gewissen Frau in London, nicht wahr?«
    »Ich verstehe nicht, was …«
    Ich verstummte. Eine neue Art von Angst überfiel mich. Das Verschwinden meines Schattens war eine Sache; ich fühlte mich in keiner Weise daran schuld, aber dass diese Tatsache meine Beziehung zu Carla beeinflussen sollte, das war etwas anderes. Es kam wie eine plötzliche, dunkle Einsicht, eine sich blitzschnell auftürmende Wolkenbank am klaren Himmel, diesem hellblauen, unschuldigen Oxfordhimmel, den ich zwischen dem Kastanienlaub vor dem Fenster erahnen konnte, und es verblüffte mich. Ließ mich kapitulieren.
    »Das muss aufhören.«
    Ich brachte kein Wort heraus. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, ich dachte daran, wie er sich letztes Mal genannt hatte, und das Bild eines Wolfs, der soeben seine Beute erlegt hatte und sich jetzt darauf vorbereitete, sie mit den Zähnen zu zerreißen, erschien folgerichtig als Projektion in meinem Kopf. Doch dann lehnte er sich zurück, eine plötzliche Sättigung schien im Wolf aufzusteigen, eine Verachtung gegenüber dem unansehnlichen, sicher ungenießbaren Tier, das er gerade getötet hatte. Nicht der Ansatz eines Löwen.
    »Du darfst dir keine weiteren Fehler leisten. Und wenn deine Beziehung zu dieser Frau nicht augenblicklich beendet wird, dann werden wir Maßnahmen ergreifen. Wir haben keine Zeit für Mitleid.«
    »Ich …«
    »Weder mit dir noch mit ihr.«
    Ich schluckte und jagte den Wunschgedanken zum Teufel, ich säße immer noch in der Halle, träumte und wäre immer noch nicht wieder aufgewacht. Doch der Mann mir gegenüber bestand viel zu real aus Fleisch und Blut, um nur eine Chimäre zu sein. Ich setzte mich auf die Bettkante und wurde von Kopfschmerzen überfallen. Vermutete, dass es daran lag, dass ich betäubt worden war, natürlich hatte ich immer noch die Droge im Körper, meine Arme und Beine fühlten sich schlaftrunken und bleischwer an.
    »Verschwinde. Hedda zeigt dir den Ausgang.«
    Er warf mir meinen leeren Stoffbeutel zu. Ich kam auf wacklige Füße.
    »Du wirst keine weiteren Warnungen erhalten.«
    »Es tut mir leid.«
    Er antwortete nicht. Nahm die Zeitung hoch und las weiter, als wäre nichts von Belang geschehen.
    Zweieinhalb Stunden später stieg ich an der Paddington Station aus dem Zug. Es war immer noch ein schöner Frühsommertag, doch das registrierte ich nicht. Während der gesamten Rückfahrt hatte ich nichts registriert, hatte eingezwängt und verschwitzt in dem überfüllten Zug gesessen und mich gegen meinen Willen wach gehalten. Etwas war schiefgelaufen, ich wusste nicht, was, und nicht, wie; nur dass es so war und dass es nicht wiedergutzumachen war. Ich trottete auf zittrigen Beinen heim nach Craven Terrace, trank ein Glas Weißwein und ein Glas Wasser und schlief ein.
    Um halb elf Uhr abends wachte ich auf, und jetzt war ich endlich wieder klar im Kopf. Was ein schwacher Trost in dem Zusammenhang war; als ich versuchte, die Ereignisse des Tages noch einmal Revue passieren zu lassen, erschien mir der gesamte Verlauf vollkommen unbegreiflich, doch ich begriff zumindest, dass mein Unwissen seine Wurzeln hatte. Ein Spielstein, der nichts von den Regeln des Spiels weiß, kann ja wohl kaum erwarten, einen Überblick über die Strategien und entscheidenden Beschlüsse zu bekommen. So ein Spielstein kann nur sich selbst die Schuld geben.
    Und meine Sehnsucht nach Carla war zurück auf Feld eins.
    Meine lebensgefährliche Sehnsucht. Was beinhaltete die Drohung, dass unsere Beziehung ein

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