Himmel über London
vom Amtsarzt Petronius-Häger als auch von Doktor Hermansson in der Köpmangatan als nicht mehr in der Lage betrachtet, die schwere, körperlich fordernde Arbeit der Armierung fortzusetzen, die Arbeitsvermittlung bot ihm eine Umschulung an, und im Herbst trat er seine Stelle als Fahrer bei Lindegrens Taxi in K. an. Dort wurde ein weiterer Fahrer gebraucht, weil der Gründer, Valdemar Lindegren, mit einem mopedfahrenden freikirchlichen Prediger zusammengestoßen und anschließend in Pension gegangen war.
Damit waren die meisten wesentlichen Ereignisse in Lars Gustav Seléns Leben eingetroffen. Doch er hatte noch neununddreißig Jahre seines Lebens vor sich.
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Das gelbe Notizbuch
O xford, der 7. Juni 1971, um halb neun Uhr morgens.
Der Zug von Paddington fährt in den Bahnhof ein. Mein Auftrag ist einfach; das habe ich mir zumindest gutgläubig, wie ich bin, eingeredet. Ich soll eine Person mit dem Decknamen Maddox in einem Haus in der Woodstock Road treffen. Ich soll dem Mann ein Dokument in einem Ordner übergeben, und wenn ich das getan habe, soll ich den Zug zurück nach London nehmen. Das Problem dabei ist, dass ich beschattet werde, und ich soll zusehen, dass der Schatten mich nicht verliert.
Wozu das dienen soll, welche höheren und edleren Ziele ein derartiges Spiel verfolgt, davon habe ich keine Ahnung. Ich habe den Ordner in meiner Tasche, meiner alten, üblichen für Armeedepeschen von besonderer Bedeutung, und ich nehme mir viel Zeit, sowohl auf dem Bahnsteig als auch im Bahnhofsgebäude. Ich kaufe eine Zeitung und ein Päckchen Zigaretten. Es ist mir nicht aufgefallen, dass mich jemand während der Fahrt von Paddington beschattet hat, aber ich habe auch keine große Mühe darauf verwendet, es zu bemerken. Es ist natürlich nicht Sinn der Sache, dass mein Verfolger bemerkt, dass ich von seiner Existenz weiß, und vielleicht handelt es sich ja auch um jemanden, der auf mich hier in Oxford wartet. Es gibt eine unendliche Anzahl von Varianten in der Welt des Beschattens.
Es ist ein strahlend schöner Frühsommermorgen, und gemäß meinen Anweisungen spaziere ich den ganzen Weg vom Bahnhof über die Hythe Bridge und weiter Richtung Norden zur Woodstock Road. Es ist nicht das erste Mal, dass ich in Oxford bin, ganz und gar nicht. Viele der Obstbäume stehen noch in Blüte, es war ein später Frühling, und mir kommt das Gedicht von Robert Browning in den Sinn:
The year’s at the spring
And day’s at the morn
Morning’s at seven
The hillside’s dew-pearled
The lark’s on the wing
The snail’s on the thorn
God’s in his heaven
All’s right with the world
Es ist wirklich so ein Morgen, auch wenn mein Spaziergang nicht durch Gottes freie Natur führt, sondern durch das klassische Oxford. Ich komme vorbei an Ashmolean, St. John’s und Somerville, und in meinem Kopf leistet natürlich Carla Browning Gesellschaft. Das tut sie immer, mehr oder weniger in jeder wachen Stunde, doch an diesem wunderschönen Tag scheint sie besonders präsent zu sein. All’s right with the world, und Carla ist der Grund dafür. Alle Anzeichen von Zweifel, über die ich früher geschrieben habe, existieren nicht einmal mehr im Ansatz.
Aber auch keine Spur meines Verfolgers. Zumindest gelingt es mir nicht, ihn (oder sie?) bei einer der wenigen Gelegenheiten, bei denen ich einen vorsichtigen Blick nach hinten werfen kann, zu entdecken. Die Adresse, die ich ansteuere, liegt ziemlich weit hinten auf der Woodstock Road, Nummer 171, und nachdem ich diese langgestreckte Straße betreten habe, die auf beiden Seiten von luxuriösen Privathäusern in üppigen, ansehnlichen Gärten begrenzt wird, und sie entlanggehe, beginne ich nach einer Wei le, Unrat zu wittern. Ich bleibe stehen, um mir den Schuh zuzubinden, mit einem Fuß auf einer niedrigen Mauer, und ich sehe nicht einen einzigen Menschen in der Richtung, aus der ich komme. Es gibt auch so gut wie keinen Autoverkehr hier, sollte mir also wirklich ein Schatten auf den Fersen sein, dann muss es sich um einen richtigen Profi handeln. Außerdem muss ich feststellen, dass meine Instruktionen – die ich in einem zugeklebten Umschlag in der Badeanstalt im Porchester Centre zusammen mit dem Dokument entgegengenommen habe – nicht so eindeutig sind: auf der einen Seite soll ich darauf achten, beschattet zu werden, auf der anderen Seite nicht verraten, dass ich es weiß. Das ist zweifellos etwas paradox.
Ich schnüre auch noch den anderen Schuh, richte mich auf, simuliere
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