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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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eine Weile Nachdenklichkeit, während ich in die Sonne blinzle und mir eine Zigarette anzünde. Dann setze ich meinen Weg auf dem Bürgersteig in langsamem – aber nicht übertrieben langsamem – Tempo fort. Werfe noch zwei, drei Blicke über die Schulter, bis ich bei Nummer 171 angekommen bin, aber immer noch kann ich nichts entdecken, was darauf hindeuten könnte, dass ich verfolgt werde. Ich zögere einen Moment, dann drücke ich die Klinke hinunter und öffne das Eisentor, folge dem gepflasterten Weg bis zum Eingang des großen, rotbraunen Klinkergebäudes. Die Haustür ist aus dunklem Holz, Eiche oder Teak, wie ich denke, mit einem schweren Eisenklopfer in Form einer Löwentatze. Vielleicht ist es auch ein Tiger, ich bin nicht gut in großen Raubtieren. Hohe, in Blei gefasste Fenster auf allen Seiten; üppige grüne Ranken, die ungehemmt die Wände hochklettern und bis übers Dach reichen. Es sieht aus wie der Prototyp eines Professorenhauses, ich wäre nicht verwundert, wenn C.S. Lewis persönlich mir die Tür öffnete. Doch der ist ja tot, starb am selben Tag wie John F. Kennedy, wenn ich mich nicht irre.
    Es ist nicht C. S. Lewis, der öffnet. Es ist eine sehr kleine Frau; sie sieht aus, als käme sie direkt aus einem Märchenbuch. Sie nickt verhalten, als wäre ich erwartet, aber nicht besonders erwünscht, und gibt mir mit einem Zeichen zu verstehen, dass ich mich auf einen wuchtigen Ledersessel setzen soll, der neben einem gemauerten Kamin in der dunklen Halle steht. Ich lasse mich nieder, die Frau verschwindet weiter hinten im Haus, und ich schaue mich um. Brusthohe braune Holztäfelung, drei sorgfältig verschlossene Türen, dunkel gemusterte Tapete, Bügel mit einigen Jacken, Hüte, ein Schirmständer, zwei Paar Männerschuhe und ein Paar altmodische Überschuhe. An der Wand gegenüber dem Kamin hängt ein großes, goldgerahmtes Bild, mindestens ein mal ein Meter groß, es stellt einen toten Schwan im Schilf an einem zugefrorenen See dar. Ich kann mir nur schwer einen größeren Kontrast zu dem Sommermorgen vorstellen, den ich gerade verlassen habe, als diesen Schwan mit gebrochenem Hals in dieser finsteren Halle. Something’s not right with the world. Von irgendwoher im Haus ist leise Klaviermusik zu hören. Chopin, wie ich denke.
    Eine Weile später wachte ich in einem Bett in einem deutlich helleren Raum auf. Großzügig strömte das Tageslicht durch ein geöffnetes Doppelfenster herein, von meiner Position aus konnte ich Teile des blauen Himmels hinter der üppigen Baumkrone einer Kastanie sehen. Ich nahm an, dass ich mich in einem Zimmer zum Hof hin befand, aber mir kam auch der Gedanke, ich könnte mich in einem Bett in einem ganz anderen Haus befinden als in dem, das ich in der Woodstock Road betreten hatte. Meine Erinnerung endete mit dem Bild, als ich dasaß und den toten Schwan neben dem zugefrorenen See betrachtete, das Ganze zu Klängen von Chopin, wenn es denn tatsächlich Chopin war, und bevor ich verwirrt auf meine Armbanduhr schaute, hatte ich absolut keine Ahnung, wie viel Zeit seitdem vergangen war.
    Halb elf. Also nicht mehr als eine Stunde. Der Mann, der auf einem Stuhl an einem runden Tisch saß und den Guardian las, bemerkte, dass ich aufgewacht war; er faltete seine Zeitung zusammen und musterte mich mit ernstem Blick. Wie beim letzten Mal trug er einen dunklen Anzug und ein weißes, offenes Hemd. Seine unverkennbare Autorität und sein tätowierter Käfer waren auch gleich, doch die offensichtliche Aura beherrschter Feindseligkeit, die er ausstrahlte, war neu.
    Neu und beunruhigend. Das erste Gefühl, das in meinem trägen Kopf auftauchte, nachdem ich die Zeit kontrolliert hatte, war eine instinktive Angst. Etwas war schiefgelaufen, auf irgendeine Art und Weise war ich schuld an diesem Misslingen, und ich fühlte mich ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er musste ja beispielsweise dafür gesorgt haben, dass ich einschlief, während ich vor diesem traurigen Schwan saß, und allein das genügte, um Befürchtungen zu erwecken. Es genügte.
    Vielleicht wartete er ab, um mir Zeit zu geben, diese Vermutungen zu durchdenken, ich weiß es nicht. Er trank einen Schluck Wasser aus einem Glas auf dem Tisch und räusperte sich.
    »Nicht besonders geglückt«, sagte er in einem tiefen, gedämpften Tonfall. »Überhaupt nicht geglückt, wenn man es genau nehmen will.«
    Ich versuchte zu antworten, doch meine Kehle war staubtrocken, es kam nur ein leises Zischen aus meinem Mund. Er goss

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