Himmel über London
Frühstück aß, das sie mit Hilfe der Zutaten aus dem Wholefood Market in Kensington zusammengestellt hatte, begriff sie, dass es nur eine Möglichkeit gab, die Sache aus der Welt zu schaffen. Plastiktüten, Klebeband und schützendes Außenfach zum Trotz.
Aber noch nicht. Jetzt noch nicht. Es war erst halb neun. Sie entschied sich zunächst für einen Spaziergang am Fluss entlang, und anschließend wollte sie nachsehen, wie es um ihren Bruder stand. Heute Abend war der große Abend, Leonards Geburtstagsfeier, vielleicht wäre es von Vorteil, gewisse Strategien zu entwickeln.
Strategien?, dachte sie, während sie sich die abwaschbaren Handschuhe überstreifte. Was heckt mein armer Kopf da eigentlich aus?
Der Spaziergang dauerte knapp eine Stunde, und als sie wieder zurück im Hotel war, fühlte sie sich deutlich besser. Sie rief Gregorius in seinem Zimmer an. Er antwortete nicht, und als sie eine halbe Minute später an seine Tür klopfte, meinte sie nur ein Geräusch aus dem Zimmer zu hören, das sie nicht identifizieren konnte. Ein Knurren? Sie beschloss, dass es sich um Einbildung handeln musste, vielleicht kam es ja auch von ganz woandersher in dem großen Hotel. Sie kehrte in ihr eigenes Zimmer zurück und rief stattdessen bei ihrer Mutter Maud an.
Doch auch hier bekam sie keine Antwort.
Merkwürdig, dachte sie. Stellte fest, dass es inzwischen halb elf war und dass unter dem grauweißen, aber niederschlagsfreien Himmel über dem Hyde Park und Kensington Gardens Vögel flogen. Kurz überlegte sie, vielleicht noch einen Spaziergang zu unternehmen, musste sich aber eingestehen, dass das nur eine Ausflucht wäre.
Stattdessen öffnete sie den Schrank und holte das Päckchen aus dem Seitenfach der Reisetasche. Sie merkte, wie ihre Hände anfingen zu zittern und dass ihr Mund trocken wie eine sonnenbeschienene Baumrinde war. Und während sie das Klebeband aufschnitt und aufriss, kam dieser Abend zurück.
Ende Oktober 2004. Sechs Jahre her. Sie war auf dem Heimweg von einer Eintageskonferenz über neue EU -Gesetze in Oostwerdingen gewesen. Alle anderen Teilnehmer hatten sich entschieden, über Nacht zu bleiben, aber Irina hatte irgendeine Entschuldigung vorgebracht und sich ins Auto gesetzt, um nach Hause zu ihrem eigenen Bett zu fahren. Was zwar bedeutete, dass sie nicht vor Mitternacht in Maardam sein würde, aber das war nicht weiter schlimm. Das Hotel, in dem sie getagt hatten, ließ so einiges zu wünschen übrig, sowohl was den Komfort als auch was die Reinlichkeit betraf, da war ihr die Entscheidung nicht schwergefallen.
Aber nach einem ganzen Tag Unterredungen über alle möglichen Petitessen und juristischen Spitzfindigkeiten war sie müde, das war klar, und sie fuhr erst gut eine halbe Stunde, als es passierte.
Es war dunkel, und es regnete. Der Mann, der am Straßenrand entlangging, hatte nicht den geringsten hellen Streifen an sich, und sie sah ihn erst, als sie ihn bereits getroffen hatte. Außerdem war ihr gerade ein Auto entgegengekommen, deshalb war sie besonders weit am rechten Rand gefahren. Ihr einziger Eindruck von dem Mann, den sie angefahren hatte, war etwas Graues und eine ausgestreckte Hand, die für den Bruchteil einer Sekunde am Seitenfenster vorbeiwirbelte. Wäre da nicht die merkwürdig deutliche Handfläche gewesen, hätte es sich ebenso gut um ein Tier handeln können. Einen Dachs oder einen Fuchs.
Aber es war ein Mensch, das hatte sie sofort gewusst. Sie wusste es, als sie nach hundert Metern anhielt, und wenn es irgendeinen Zweifel gegeben haben sollte, dann verschwand der, als sie darüber zwei Tage später in der Zeitung las.
Er war dort im Straßengraben gestorben. Man hatte ihn erst am nächsten Vormittag gefunden, wäre er früher versorgt worden, hätte er gute Chancen gehabt, zu überleben.
Zu dem Zeitpunkt – als sie ihn fanden, und erst recht, als Irina die kurze Notiz in Neuwe Blatt las – war es zu spät gewesen. Viel zu spät. Es hatte sich entschieden, als sie da am Straßenrand im Auto saß und das Lenkrad so fest umklammerte, dass die Hände taub wurden. In dieser finsteren Minute, oder wie lang es immer gedauert haben mochte, diesem unwiderruflichen Moment ihres Lebens, als sie kurz und überraschend auf einer Waage gewogen und als zu leicht befunden wurde. Als sie einen anderen Menschen seinem Schicksal überließ, um ihre eigene Haut zu retten. Sie hatte natürlich nicht gewusst, dass er weitergelebt hätte, hätte man ihn früher gefunden, aber sie
Weitere Kostenlose Bücher