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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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hätte zumindest anonym von einer Telefonzelle in der nächsten Stadt anrufen können. Das zumindest.
    Doch nicht einmal das hatte sie getan. Und ihr war klar, dass es dieser Abend war, an dem sie sich wirklich selbst kennen gelernt und begriffen hatte, aus welchem Material sie gemacht war.
    Es hatte nicht in der Zeitung gestanden, wie der Mann hieß, nur dass er 38 Jahre alt war und in Saaren wohnte. Auch im Brief war kein Name genannt worden, nur eine Telefonnummer, die sie anrufen sollte, wenn sie zur Vernunft kommen und Friede für ihre Seele finden wolle.
    Sie hatte den Umschlag – nur mit ihrem Namen in Blockbuchstaben auf der Vorderseite – mehr als ein halbes Jahr später in ihrem Briefkasten gefunden, und die Formulierung hatte genau so gelautet: zur Vernunft kommen und Friede für deine Seele finden. Der Briefschreiber behauptete, er gehöre zu denen, die des Nachts herumwandern, und dass es für ihn von Bedeutung war, in Kontakt mit ihr zu treten. Er habe in den Stunden im Graben sehr gelitten, bevor er starb, schrieb er, und er litt schwer unter seinen momentanen Lebensbedingungen. Er bat sie – bat sie eindringlich –, ihn zu kontaktieren, entweder indem sie eine bestimmte Telefonnummer anriefe oder indem sie einem genau beschriebenen Kellner in einem Restaurant im Deijkstraakvarteren in Maardam eine Nachricht übergab.
    Sie hatte sich nie getraut anzurufen, aber sie war in dieses Lokal gegangen. Es hieß Vlissingen und lag am Ende der Armastenstraat, ganz unten an einem der Kanäle. Sie hatte dort eines Abends Anfang Mai gestanden und durch das Fenster hineingeschaut, fast unmittelbar hatte sie den betreffenden Kellner entdeckt, da gab es keinen Zweifel, er entsprach exakt der Beschreibung im Brief, doch sie war unverrichteter Dinge wieder fortgegangen.
    Hatte den Brief weggeworfen und ihr Leben weitergeführt. Alles verdrängt. Sie konnte sich nicht mehr an die Telefonnummer erinnern, die war aus ihrem Bewusstsein ausradiert – wenn sie jemals dort gespeichert gewesen war –, aber sie erinnerte sich noch an die wenigen Zeilen. Mehr oder weniger wortgetreu, das war unvermeidbar, und bei bestimmten Anlässen waren sie im Laufe der Jahre immer mal wieder in ihrem Kopf aufgetaucht. Ich leide sehr unter meinen momentanen Lebensbedingungen, und es gibt nur einen Menschen, der etwas daran ändern kann. Jedes Mal wieder hatte sie verwundert festgestellt, dass nichts Bedrohliches an diesem Satz war. Eher handelte es sich um einen Appell.
    Aber wie gesagt, sie hatte nie Kontakt aufgenommen. War nie wieder zu diesem Restaurant gegangen. Manchmal fragte sie sich, warum, wusste aber eigentlich gleichzeitig, dass es sich hier um eine Tür handelte, die geschlossen bleiben musste. Vielleicht, so dachte sie, verhielt es sich mit dem Übernatürlichen – mit dem, was sich nicht durch normale Dinge erklären lässt – genau wie mit dem Schmutz und der Unsauberkeit. Sie konnte es einfach nicht ertragen.
    Und der Briefeschreiber – der, der nachts herumwanderte – hatte nie wieder von sich hören lassen.
    Bis jetzt. Wahrscheinlich. Während dieser Tage voller Zufälle in einem fremden Hotel in einer fremden Stadt. Es war ein Fehler gewesen, diese Reise anzutreten, genau wie sie gedacht hatte. Sie hätte sich nie von ihrem hoffnungslosen Bruder dazu überreden lassen dürfen.
    Sie zog das Buch aus der Verpackung, holte tief Luft und fing an, darin zu blättern. Das Telefon klingelte, aber statt dranzugehen, steckte sie es aus.

47

Milos
    M ilos Skrupka stand am Fenster und sah, wie Leya unten auf der Straße in ein Taxi stieg. Es war zwanzig Minuten vor neun; um zu Fuß zu gehen oder die U-Bahn zu nehmen, war es bereits zu spät, wenn sie vor neun Uhr an Ort und Stelle in ihrer Bank sein wollte. Eigentlich hatte sie um sieben Uhr aufstehen wollen, doch dann war es anders gekommen.
    Als sie die Wagentür zugezogen hatte, gerade bevor sie aus seinem Blickfeld verschwand, steckte sie den Kopf und einen Arm durchs Seitenfenster und winkte ihm noch einmal zu. Er wünschte, er hätte einen Fotoapparat, um dieses Bild bewahren zu können. Ihr leicht zerzaustes Haar und ihr glückliches Gesicht im morgendlichen Verkehr; das drückte eine solche Lebensfreude aus, wie er fand, solch eine Sorglosigkeit und unbekümmerte Liebe, dass ihm fast schwindlig wurde.
    Und das alles galt ihm. Das ist großartig, dachte er. Großartig, wunderbar und alles Mögliche, und während er einen Moment noch dort stand und die Autos und die

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