Himmel über London
und Ganzen zumindest, ließ nie etwas auf dem falschen Platz liegen, achtete immer darauf, dass Kleidung und anderes dort landete, wo es hingehörte: auf Bügeln, in Schubläden, in Mappen oder im Wäschekorb.
Aber das Buch lag auf dem Boden, und nachdem sie es einige Sekunden lang betrachtet hatte, begann sie mit schnell steigender Gewissheit zu begreifen, dass diese Gefühle der Unruhe und der Bedrohung von ihm ausgingen. Bekenntnisse eines Schlafwandlers , so hieß es. Sie streckte sich hinunter und hob es auf, drehte es um und betrachtete die feuerroten Buchstaben des Titels vor dem schwarzen Hintergrund mit den helleren horizontalen Strichen. Plötzlich erinnerte sie sich, dass sie genau das Gleiche schon früher getan hatte und dass sie … dass sie das Buch letzte Nacht zu zwei unterschiedlichen Zeiten gelesen hatte. Das war sonderbar. Auch der Autorenname war in Rot: Steven G. Russell. Langsam kamen ihr seine Worte wieder in den Sinn.
Und die Furcht wuchs.
Sie packte das Problem so rational wie möglich an. Stopfte das Buch in eine doppelte Plastiktüte, verklebte diese mit Dutzenden von Klebebandrunden und schob das Paket dann ins Seitenfach ihrer Reisetasche. Zog den Reißverschluss zu, stellte die Tasche zurück in den Schrank und ging ins Badezimmer, um zwanzig Minuten lang zu duschen.
Doch es funktionierte nicht so recht. Das Buch blieb in ihrem Kopf, und das war natürlich kein Wunder. Es schien auf eine eigenartige Art und Weise von ihr selbst zu handeln, zumindest das Wenige, was sie bisher gelesen hatte. Oder nicht? Der Autor, wer immer es nun sein mochte, richtete sich direkt an sie, und er schien Dinge zu wissen, die … die ein Außenstehender unmöglich kennen konnte. So war das. Er schrieb sowohl über Ereignisse, die weit zurücklagen, als auch über das, was gerade im Augenblick passierte und, ja, das behauptete er zumindest, auch über Dinge in der Zukunft. Und er behauptete, dass sie – wenn sie sich richtig erinnerte – am besten fahren würde, wenn sie das annahm, was er zu sagen hatte. Hatte er nicht sogar geschrieben, dass … dass er auf ihrer Seite stand und dass er ihr bei irgendwelchen bevorstehenden Ereignissen helfen wollte, Ereignissen, die unmittelbar bevorstanden?
Aber wie war das möglich?
Das war nicht möglich, konstatierte sie nüchtern. Natürlich nicht. Es war leicht, zu diesem Schluss zu kommen, aber es nützte nichts. Konnte es sein, dass sie das Buch nie aufgeschla gen hatte? Nur geträumt hatte, sie hätte darin gelesen? Zwei Mal?
Sie sah ein, dass das der Grund war, warum sie es so gut in die Plastiktüten verpackt hatte. Damit sie nicht verlockt wäre, nachzusehen. Was man nicht sieht, das gibt es nicht, zumindest solange man in der Lage ist, die Gedanken davon fernzuhalten. Wenn Irina Miller beispielsweise über all den Schmutz und die fehlende Hygiene nachdenken würde und all das eklige Ungeziefer, das sich in allen Ritzen und Ecken auf der Welt befand, wenn es ihr nicht gelingen würde, derartige Gedanken auf Abstand zu halten, ja, dann würde sie untergehen. Das wusste sie, und zwar bereits seit vielen Jahren.
Die Strategie war also nicht neu. Sie musste vermeiden, an Steven G. Russell und seine unsinnigen Schlafwandlerbekenntnisse zu denken, und damit würde sich das Problem von selbst erledigen.
Sie trocknete sich mit ihrem eigenen, mitgebrachten Frotteehandtuch ab und cremte sich sorgfältig den ganzen Körper mit der Hautlotion ein, die sie in einer noch ungeöffneten Packung von zu Hause mitgebracht hatte. Bürstete sich das Haar, schminkte sich leicht und zog sich an, und als sie so weit ge kommen war, dass sie Schuhe an den Füßen hatte, gab es ei gentlich nur noch eine Sache, die sie einfach nicht loswurde.
Er hatte diesen Unfall erwähnt.
Plötzlich war sie sich hundertprozentig sicher, dass sie das nicht nur geträumt hatte. Steven G. Russell hatte über das geschrieben, was vor vielen Jahren an einem dunklen Herbstabend zwischen Oostwerdingen und Saaren passiert war. Fast wie nebenbei hatte er es erwähnt, das, was so fest versiegelt und sorgfältig versenkt im Brunnen des Vergessens lag, dass es eigentlich gar nicht die geringste Möglichkeit hatte, jemals an die Oberfläche aufzusteigen.
Doch genau das hatte es getan. In einem Buch, das sie zufällig in Lippmanns Buchladen in der Ruyder allé gekauft hatte.
Und der Brief. Den Brief kannte er auch.
Wie war das nur möglich? Während sie am Tisch vorm Fenster saß und ihr einfaches
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