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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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– dem allerletzten Menschen, der noch übrig war – aus dieser Fotosammlung, die ich an einem Donnerstag vor tausend Jahren im Bramstoke and Partners Antiquariat in der Hogarth Road entgegengenommen hatte.
    Alle anderen waren – auf unterschiedliche Art und Weise – von der Bildfläche verschwunden. Mehrere waren als Spione entlarvt worden, hatten mit Namen und Foto in englischen Zeitungen gestanden und waren ausgewiesen worden; einige saßen im Gefängnis, und ein paar von ihnen waren tot, nicht aufgrund ihres hohen Alters oder einer Krankheit, was mir auf verschiedene Weise zur Kenntnis gebracht worden war, und ich hatte natürlich versucht, aus diesen Verlusten meine Schlüsse zu ziehen.
    Der gemeinsame Nenner für all diese Menschen war, dass sie auf der falschen Seite gestanden hatten. So war das. Ich erinnerte mich an diesen Mann, der vor meinen Augen im Holland Park ermordet worden war, ich erinnerte mich an das Haus in Hampstead – und ich wusste, dass Carla irgendwie mit diesen Dingen einverstanden gewesen war. Es waren diese achtzehn Gestalten gewesen, die Gegner waren – gewesen waren; es gab noch einige Unklarheiten, Details, von denen ich mir nicht erklären konnte, wie sie zusammenhingen, mein Besuch in dem Haus an der Woodstock Road in Oxford beispielsweise, wie die Ereignisse unten in der Untergrundbahn am Covent Carden –, aber ich hatte keinen Zugang zu dem grundlegenden Muster. Ich hatte nie versucht, zu verstehen, wie alles zusammenhing, Carla war mein Motor und meine Motivation für alles gewesen, und sie hatte mir auch mehrere Male erklärt, dass es so sein musste. Ich musste mich damit zufriedengeben, keinen Überblick zu haben, die einzelnen Spielfiguren durften nicht zu viel wissen, nur so funktionierte das Spiel.
    Das war mir logisch erschienen, sogar im Nachhinein musste ich das zugeben. Aber das neue Fragezeichen blieb. Was bedeutete es, wenn ich für Mr. Kovak etwas erledigte? War Carla selbst immer noch aktiv? Aus ihren Briefen hatte ich geschlossen, dass dem nicht so war. Und wenn sie nicht mehr dabei war, konnte es dann nicht so sein, dass die andere Seite ganz einfach die Gelegenheit nutzte, sich meiner zu bedienen? Wieso nicht, ich konnte ja wohl kaum eine unbekannte Karte für sie sein? Und worin bestand das Problem, das durfte man sich doch wohl fragen? Darin, das Deodorant aus England herauszubringen oder es in die Tschechoslowakei hineinzuschmuggeln?
    Oder war diese Frage zu simpel? Diese Gefühle, nicht zu begreifen, in welchen Zusammenhängen man eigentlich agierte – Gefühle, die während der ersten Zeit mit Carla eigentlich mein täglic h Brot gewesen waren, aber seitdem sie London verlassen hatte, war es mir so ziemlich gelungen, sie abzuschütteln –, sie waren erneut dabei, Besitz von mir zu ergreifen, während ich auf der schmalen Pritsche im Zug lag und nicht schlafen konnte. Früher, besonders während des Zeitabschnitts, den ich als die blaue Epoche und die der roten Liebesflut beschrieben habe, hatte ich das als eine Art notwendiger und unvermeidbarer Zutat zu unserer Beziehung akzeptiert; jetzt, im März 1974, war es plötzlich sehr viel schwerer, sich diesen Bedingungen zu fügen.
    Aber Spekulationen waren sinnlos, das wusste ich. Bevor ich sie nicht wiedergesehen hatte, konnte ich überhaupt nichts mit Sicherheit sagen. Wie sehr Carla immer noch mein Inneres dominierte, trotz meiner vermeintlichen Befreiung, das hatte ich eines Abends im September begriffen, also ein halbes Jahr, bevor ich mich in den Zug an der Waterloo Station setzte. Ich hatte eine Verabredung mit einer jungen Frau namens Rose gehabt, sie kam aus Vancouver in Kanada, studierte ein paar Semester lang irgendetwas an der London University und war zweifellos eine Schönheit.
    Außerdem begabt und charmant, doch als wir nach einem langen, angenehmen Essen in bestem Einvernehmen in einem Lokal in Portobello in meine Wohnung kamen, überfiel mich bei dem Gedanken, was jetzt folgen sollte, ein plötzliches Ekelgefühl. Ich konnte mir ganz einfach nicht vorstellen, mit ihr ins Bett zu gehen, kaum dass ich sie in meiner Nähe ertrug, und wir trennten uns unter den peinlichsten Umständen.
    Und ich weiß, es war Carla, die dem einen Riegel vorschob, die Gedanken an sie. Das hatte sie noch nie zuvor getan, aber dieses Mal war es Tatsache. Ich lag den Rest der Nacht hellwach da und bekam sie nicht aus meinen Gedanken, und seitdem, ja während der gesamten sechs Monate, die seit diesem Schiffbruch

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