Himmel über London
eines Schlafwandlers . Sie lag nicht im Bett und schlief. Sie halluzinierte nicht. Sie war nicht verrückt geworden.
Obwohl das im Rahmen der Möglichkeiten lag. Wenn man auf eine realistische Antwort aus war, dann war Wahnsinn, der psychische Zusammenbruch, die plausibelste Erklärung.
Irina Miller schätzte plausible Erklärungen. Der kürzeste Weg von A nach B ist eine gerade Linie. Regen verwandelt sich in Schnee, wenn die Temperatur unter null Grad sinkt. Setzt man sich in einen Bus voller erkälteter Menschen, erkältet man sich.
Aber das hier? Einer, der nachts umherirrt? Steven G. Russell. Wie konnte er das wissen? Wie um alles in der Welt war das möglich? Und was bedeuteten seine Vorhersagen für die Zukunft? Für ihre Zukunft? Dass eine unmittelbare Gefahr drohte. Sie las die letzte Seite noch einmal.
So gesehen bin ich nicht der rechtmäßige Steven G. Russell. Ich bin nur ein Wanderer, der sich seinen unruhigen Geist angeeignet hat, das ist nicht ungewöhnlich in unseren Kreisen. Aber sein Geist wünscht sich Ruhe, und du bist es, Irina Miller, die ihm dazu verhelfen kann. Allein du; du hast ihn einmal sterbend zurückgelassen, und deine Untat muss gesühnt werden. Doch dazu ist es nötig, dass du selbst nicht dabei verloren gehst, deshalb will ich dir helfen, am Leben zu bleiben. Vertraue mir. Nimm dich vor dieser Geburtstagsfeier in Acht, dir droht große Gefahr; wenn du nur die geringste Möglichkeit hast, nicht hinzugehen, dann nutze sie.
Eine andere Sache, die du machen solltest, sobald sich die Gelegenheit bietet: Statte dem Pub Phoenix in der Moscow Road in Bayswater einen Besuch ab. Dort wartet in der Bar ein Brief auf dich, von deiner Kindheitsfreundin Clarissa, ich weiß nicht, was sie auf dem Herzen hat, aber soweit ich verstanden habe, ist sie vor vielen Jahren gestorben. Auch sie ist ein Wanderer in der Nacht, auf diese Art und Weise bin ich in Kontakt mit ihr gekommen.
Ich schlage dir vor, dass du jetzt nicht weiterliest. Wenn du den Abend mit heiler Haut überstehen solltest, können wir uns morgen unter neuen Voraussetzungen wiedertreffen. Solltest du jedoch sterben, bevor ein neuer Tag graut, ja, dann hat der Rest dieses Buchs ja keinen Sinn mehr. Niemand wird ihn lesen, nie.
Anschließend folgte eine leere Seite, dann ein neuer Abschnitt mit der Überschrift »Wege der Versöhnung«. Das, was sie bisher gelesen hatte, die zwanzig einleitenden Seiten, hatten keine Überschriften gehabt.
Sie klappte das Buch zu und spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte. Ihre Hände waren kalt und schweißig. Gleichzeitig gestand sie sich ein – mit einem kleinen, aber noch unbeschadeten Teil ihres Gehirns –, hätte es sich hier um einen Film und nicht um ihre eigene aktuelle Wirklichkeit gehandelt, dann wäre das jetzt vermutlich der Punkt, an dem sie nicht mehr hingeguckt hätte. Dass sie sich durch eine Reihe hätte zwängen und den Saal hätte verlassen müssen, davon konnte nicht die Rede sein, da sie Filme nur zu Hause auf ihrem eigenen Fernseher ansah. Aber zu diesem Zeitpunkt hätte sie von dem Blödsinn genug gehabt, dessen war sie sich sicher.
Junge Frau erhält aus einem Buch, das sie zufällig vor einer Reise gekauft hat, eine Botschaft, die direkt an sie und nur an sie gerichtet ist!
Denn genau so war es ja; sie hatte es nicht einmal geplant gehabt. War zufällig an Lippmanns Buchhandel vorbeigekommen, stehen geblieben und aufgrund einer Eingebung hineingegangen – und sie hätte ebenso gut nach einem anderen Buch greifen können. Nein, sie hatte wirklich keine Lust, die Fortsetzung einer so verqueren und wirklichkeitsfremden Geschichte zu sehen.
Und Clarissa Hendersen? Was um alles in der Welt hatte sie damit zu tun? Vermutlich gar nichts, das deutete der Schreiber ja selbst an. Es stimmte, sie waren Spielkameraden gewesen, sogar mal beste Freundinnen, aber eines Winters war Clarissa auf dem Kerranzee ins Eis eingebrochen und ertrunken. Zumindest wurde das von allen behauptet, es gab Fußspuren bis zu dem Punkt, an dem das Eis gebrochen war, aber ihren Körper hatte man trotz umfangreicher Suche nie gefunden. Der Kerranzee war ein tiefer See, bekannt für seine unberechenbaren Strömungen. Das Unglück hatte sich an einem Januartag ereignet, als Irina zwölf Jahre alt war. Es war kurz nachdem Leonard Vermin in ihr Leben getreten war.
Sie stopfte das Buch wieder in die Plastiktüten, verzichtete aber auf das Klebeband. Legte das Päckchen in die Reisetasche. Dann wusch
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