Himmel über London
vergangen waren, hatte ich kaum eine andere Frau auch nur angeschaut.
Die Besessenheit hatte mich also gepackt, wie man wohl behaupten konnte. Vielleicht hätte ich professionelle Hilfe suchen sollen, statt nach Prag zu fahren, aber das tat ich nun einmal nicht.
Ich kam frühmorgens am Gare du Nord an, mietete mich in einem kleinen Hotel in der Rue du Montparnasse ein und schlief ein paar Stunden. Dann wanderte ich nachmittags und abends einige Stunden durch ein regengraues und kaum frühlingshaftes Paris, aß in einem einfachen Lokal gleich neben dem Hotel etwas und ging früh zu Bett. Am nächsten Morgen setzte ich mich in einen neuen Zug, stieg zweimal um, kam aber ohne Probleme durch den Eisernen Vorhang, und am 25. März verließ ich den Zug kurz nach halb fünf Uhr an Hlavní Nádraží in Prag.
Sie war nicht da, um mich abzuholen, das sah ich gleich. Es standen überhaupt nur wenige Menschen auf dem Bahnsteig, ich ging mit meinem Gepäck und meiner Ratlosigkeit in die Wartehalle und setzte mich auf eine Bank. Dort roch es nach gekochtem Kohl und altem Tabakrauch; nach diesem billigen Oststaatentabak, ich kann mich an diese Geruchsmischung noch genau erinnern. Ich hatte gerade meinen Stadtplan herausgeholt, als eine junge Frau vor mich trat. Einen Moment lang hielt ich sie für Carlas Schwester, doch da sie kaum älter als zwanzig sein konnte, verwarf ich den Gedanken wieder.
Sie sprach mich in unsicherem Englisch an.
»Please Sir, come with me.«
Ich steckte den Plan ein und folgte ihr hinaus zu einem wartenden Wagen. Eine Art unter Lizenz hergestellter Fiat, wenn ich mich nicht irre, er war unglaublich klein, aber es gelang mir, mich selbst und meine große Tasche auf den Rücksitz zu bugsieren. Das Mädchen hüpfte auf den Beifahrersitz und sagte etwas zu dem bulligen rauchenden Mann, der hinter dem Lenkrad saß. Die gleiche Tabaksorte wie in der Wartehalle, nur etwas frischer. Nur gut, das hinter mich gebracht zu haben, dachte ich.
Sofern ich überhaupt etwas dachte.
Wir fuhren eine breite Straße mit Trolleybussen, aber fast keinen anderen Autos entlang. Bogen in eine schmalere Straße ab und hielten vor einem kleinen Lebensmittelladen. Das Mädchen und ich, wir stiegen aus, der Laden war geschlossen, sie klopfte an die Glasscheibe, und nach einer halben Minute und einem weiteren Klopfen wurden wir von einem Mann in einer Art Militäruniform hereingelassen. Doch ohne Dienstgradabzeichen; wir durchquerten den Laden und gelangten in einen Hinterraum, und dort, an einem kleinen runden Glastisch, saß er und wartete. Der Wolf. Der Mann mit der Tätowierung.
Ich weiß nicht, ob ich das erwartet hatte oder nicht. Auf jeden Fall war ich kaum überrascht. Er erhob sich kurz und schüttelte mir die Hand. Bat mich, mich doch hinzusetzen. Das Mädchen verschwand nach verrichteter Arbeit durch eine Hintertür.
Zwei kleine Gläser und eine Flasche Wodka standen auf dem Tisch. Ohne etwas zu sagen, schenkte er ein, hob sein Glas und nickte mir zu. Ich setzte mich, nahm mein Glas und leerte es.
»Das ist das letzte Mal, dass wir uns sehen«, sagte er. »Wenn ich dich jemals wieder treffe, dann werden wir Feinde sein.«
»Ich habe nicht um dieses Treffen gebeten«, erinnerte ich ihn.
Er verzog kurz den Mund und streckte die Hand aus.
»Übergabe.«
Ich holte das Deodorant heraus und reichte es ihm. Er nahm es entgegen und steckte es in die Jackentasche, ohne es zu untersuchen.
»Muss ich dir die Regeln noch erklären?«, fragte er.
Ich dachte nach. »Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte ich.
»Gut«, sagte er. »Ausgezeichnet. Dann verabschieden wir uns voneinander.«
Er schenkte noch einmal ein, und wir tranken. Dann rief er in den Laden hinaus: »Ratz!«
Ich hatte keinen anderen Menschen bemerkt, als wir zu dem Hinterraum gegangen waren, aber jetzt tauchte ein junger Mann auf. Zu meiner Freude konnte ich feststellen, dass er weder Militärkleidung noch einen schwarzen Anzug trug. Einfach nur Jeans und ein weißes T-Shirt. Aber er stellte sich fast in Habacht auf. Wolf gab ihm ein zweimal gefaltetes Blatt Papier und nickte ihm zu. Schüttelte noch einmal meine Hand, und dann verließen der junge Mann und ich den Laden.
54
E s war ein Albtraum.
Sie konnte es nicht mit anderen Worten beschreiben, und das Schlimmste: Sie war hellwach. Sie saß in diesem hellgrauen Sessel vor dem Fenster ihres Zimmers 323 im Rembrandt Hotel in der Zehnmillionenstadt London und las genau dieses Buch. Bekenntnisse
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