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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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nach wenigen Sekunden.
    »Entschuldigen Sie, aber ich weiß ungefähr, wie ein Schäferhund aussieht. Aber dieser Mann – an seiner Beschreibung bin ich eher interessiert.«
    Sie überlegte. »Mittelgroß. In den Dreißigern … braunes Haar, so halblang …«
    »Wie war er gekleidet?«
    »Gekleidet? Nun, warten Sie … schwarze Jeans, glaube ich. Hellblaues Hemd und eine Jacke … die war auch schwarz. Und ein Halstuch, so ein helles, kariertes …«
    »Ich verstehe«, sagte der Chefrezeptionist, und sein Mund wurde ganz verkniffen. »Ja, ich glaube, dass ich hier einen Zusammenhang ahne.«
    »Sie ahnen einen Zusammenhang?«, wunderte Paula McKinley sich. »Wovon reden Sie?«
    »Wovon um alles in der Welt redest du, Lionel?«, wollte auch seine Kollegin wissen und schüttelte erneut ihre Locken. »Jetzt sei so gut und rück mal damit raus.«
    Der gute Mann war anscheinend etwas verärgert darüber, dass er mit seinem Vornamen angesprochen wurde, doch es gelang ihm, seine Empörung hinunterzuschlucken. Er klickte mit sorgfältig manikürtem Zeigefinger auf drei Tasten und schaute auf den Schirm.
    »Zimmer dreihunderteinundzwanzig«, sagte er.
    Das Mädchen schaute ihm über die Schulter.
    »Miller?«, fragte sie.
    »Genau. Und ich denke, wir sollten gleich die Polizei anrufen.«
    »Ich will nur Fingal zurückhaben«, erklärte Paula McKinley.
    »Fingal?«, fragte das Mädchen verwundert.
    »So heißt er. Mein Hund.«
    »Ungewöhnlicher Name für einen Hund«, sagte das Mädchen.
    »Er ist nach dem Helden aus Ossians Gesängen benannt worden«, sagte Paula.
    »Ossian …?«
    »Wir machen es jetzt folgendermaßen«, entschied Chefrezeptionist Lionel.
    »Du, Dolores, rufst die Polizei an. Bitte sie, für alle Fälle einen Wagen herzuschicken. Der kann solange draußen auf der Straße warten. Und in der Zwischenzeit gehe ich hinauf und sondiere die Lage.«
    »Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte ein dicker Mann mit starkem Akzent, der an den Tresen getreten war und die letzten Sätze mitangehört hatte. »Wird das Hotel von Terroristen bedroht?«

56

    D er Pub hieß tatsächlich Phoenix und lag in der Moscow Road ein Stück vom Queensway entfernt. Irina ging zweimal an ihm vorbei, bevor sie all ihren Mut zusammennahm und eintrat.
    Es gibt keinen Brief für mich an der Bar, und wenn ich wieder im Hotel bin, werde ich dieses Schlafwandlerbuch wegschmeißen, beschloss sie, als sie die Tür öffnete. Ganz einfach.
    Aber es gab einen Brief. Der junge Mann am Tresen holte ihn sofort hervor, als hätte er nur dort gestanden und darauf gewartet, dass sie komme, und als sie sich wieder auf dem Bürgersteig befand, mit dem weißen, länglichen Umschlag in der Hand, fürchtete sie einen Moment lang, sie könnte das Bewusstsein verlieren. Ihr Blickfeld schrumpfte kurz ein, aber dann dehnte es sich wieder, und sie starrte auf den Umschlag.
    Ihr Name war mit runden, etwas kindlichen Versalien geschrieben. IRINA MILLER. Als hätte Clarissa ihre Handschrift aus der Kindheit behalten, dachte Irina. Und warum nicht? Warum sollte man seine Handschrift verändern, nachdem man gestorben war?
    Dieser Gedanke kam ihr wie jeder andere Gedanke in den Kopf. Einfach als logische Feststellung, und die Erkenntnis dieser haarsträubenden Normalität verursachte einen erneuten Schwindel.
    Ich werde nicht wahnsinnig, dachte sie. Ich bin es bereits.
    Sie kam auf den Queensway, doch das plötzliche Gedränge erschreckte sie: diese Unmenge von Menschen, von fremden Körpern, kleinen unhygienischen Restaurants aus allen Ecken der Welt – indische, chinesische, libanesische, italienische –, bärtige Männer, die breitbeinig dasaßen und Wasserpfeife rauchten, Touristen mit Stadtplänen, Fotoapparaten und Plastiktüten, überfüllte Papierkörbe, Tauben, die im Zickzack herumliefen und mit ihren trägen Köpfen Essensreste aufpickten; all dieses ungeregelte, brodelnde Wirrwarr erfüllte sie mit einer Welle des Ekels; bedrohlich, erstickend, fast tödlich. Sie hastete die Moscow Road zurück, wohl wissend, dass sie diesem widerwärtigen Mischmasch entkommen musste, bevor es zum Bersten kam, eine Ecke der Stille finden musste, in der sie in aller Ruhe sitzen und sich sammeln konnte, zumindest für ein paar Minuten. Nach ein paar hundert Metern kam sie zu einer Kirche, dem Text auf der Außenwand konnte sie entnehmen, dass es eine griechisch-orthodoxe war, und eines der beiden Portale stand offen. Die Stimmen eines gemischten Chores waren von innen zu

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