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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Seite nach der anderen in einem alten Benzinfass verbrannt. Es fiel mir schwer, mir mit achtundzwanzig Jahren vorzustellen, dass mein weiterer Lebensweg sehr viel mehr beinhalten würde als eine ziemlich dunkle und trostlose Wanderung.
    Zumindest neigte ich in der ersten Zeit in Earl’s Court, der ersten Woche dort, zu einer derartigen Analyse. Was möglicherweise in der anderen Waagschale zu finden war, das war Carla. Wenn ich später hin und wieder zurückschaute, so war mein Verhalten in diesem merkwürdigen Herbst nie etwas, was mich verwundert hätte. Ich hatte ganz einfach nicht besonders viel zu verlieren gehabt.
    Es vergingen acht Tage. Die Aktentasche lag hinter einem Stapel Pullover in meinem Schrank im Schlafzimmer versteckt. Nach einem Abend im Roundhouse in Chalk Farm zusammen mit Christopher und einigen weniger bekannten, mittelmäßigen Bluesbands, kam ich ziemlich spät heim; auf jeden Fall nach Mitternacht, und auf dem Flurfußboden, offenbar durch den Spalt unter der Tür geschoben, lag eine einfache Mitteilung auf einer Ansichtskarte, die einen traurigen Clown zeigte:
    Pub Prince Edward, Dawson Place, 14. Sept. 8 pm. C
    Ich hatte einige Pints im Roundhouse getrunken, vielleicht auch ein oder zwei Whisky, fühlte mich aber augenblicklich stocknüchtern. Der 14., das war der folgende Tag, und ich kam überhaupt nicht auf die Idee, dass sich hinter der Signatur C etwas anderes als Carla verbergen könnte.
    Ich verbrachte eine weitere schlaflose Nacht mit der Aktentasche vor mir auf dem Küchentisch; Tee und Zigaretten und eine Wolke unstrukturierter Gedanken im Kopf. Kurz bevor ich ins Bett kroch, hatte ich eigentlich nur zwei Dinge entschieden: dass ich ins Prince Edward gehen würde und dass Spekulationen sinnlos waren.
    Doch eine Frage musste ich dennoch beantworten: Sollte ich die Aktentasche mitnehmen oder nicht? Das ging aus dem kurzen Text auf der Clownskarte nicht hervor, aber vielleicht setzte sie ja voraus, dass ich es tat. Ich konnte diese Frage nicht beantworten, bevor ich einschlief.
    Im hellen Morgenlicht – als ich irgendwann gegen halb zehn Uhr aufstand – war es jedoch einfacher, einen Entschluss zu fassen. Ich würde die Aktentasche daheim im Schrank lassen, und der Grund war ganz einfach: Sie war meine einzige Verbindung zu Carla. Wenn ich einfach in den Pub ginge und sie ihr überreichte, dann war das Risiko groß, dass sie aus meinem Leben verschwand. Das war die schrecklichste aller denkbaren Fortsetzungen der Geschichte.
    Also trat ich ein paar Minuten vor acht Uhr mit leeren Händen in den Prince Edward Pub direkt an der Ecke zum Prince’s Square auf der Grenze zwischen Bayswater und Notting Hill. Sofort wurde mir klar, dass ich hier schon früher gewesen war, vor ein paar Jahren, vermutlich in Gesellschaft von Fjodor und Mary. An diesem Abend hingen so um die zehn Gäste an der Bar herum, und weitere zehn saßen verteilt an den kleinen Tischen im Lokal. Ungefähr fünfzehn Männer insgesamt, fünf Frauen. Keine der Frauen war Carla. Ich bestellte mein Pint und setzte mich an einen freien Tisch gleich beim Eingang.
    Zündete eine Zigarette an und wartete.
    Nach ungefähr zwanzig Minuten, ich hatte gerade den ersten Schluck meines zweiten Pints genommen, kam ein Mann herein und ließ sich an meinem Tisch nieder. Vorher deutete er auf den freien Stuhl, und ich nickte.
    Er war groß und ziemlich kräftig. In den Vierzigern, soweit ich das beurteilen konnte, trug einen dunklen Anzug und einen dünnen Mantel. Bevor er sich setzte, zog er den Mantel aus und legte ihn sich ordentlich zusammengefaltet über die Knie. Er trug ein aufgeknöpftes Hemd, hatte dunkles Haar, etwas schütter, mit Hilfe irgendwelcher Pomade nach hinten gekämmt. Tiefliegende Augen, eine kräftige, markante Nase und ein schmaler, gepflegter Schnurrbart. Ich dachte, dass er aussah wie die Inkarnation eines Botschaftssekretärs irgendeines Ostblockstaates.
    Oder wie ein Berufsverbrecher. Statt Bier trank er Wein, ein Glas Weißwein, an dem er zunächst schnupperte und es dann mit einer gewissen Akkuratesse auf den Pappdeckel auf dem Tisch stellte. Er holte eine Zigarette aus einem Etui heraus, klopfte das eine Ende zweimal auf den Etuideckel und fragte mich, ob ich Feuer habe. Während ich ihm Feuer gab, schob er mir ein zweimal gefaltetes Stück Papier zu, nicht größer als eine Taxiquittung. Ich war gerade im Begriff, es mir zu nehmen, als er mir mit dem Zeigefinger bedeutete, dass ich das sein lassen

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