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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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solle.
    Dann wandte er den Blick von mir ab, holte ein kleines Notizbuch aus der Jackeninnentasche, eine Brille ohne Fassung aus der Brusttasche und begann zu lesen. Ich trank einen Schluck Bier und räusperte mich.
    Er zuckte nicht mit der Wimper.
    Du liest nicht, dachte ich. Du spielst Theater, ich bin doch kein Idiot.
    »Entschuldigen Sie …«
    Er reagierte nicht. Spielte weiterhin Theater. Ich zündete mir ebenfalls eine Zigarette an und stopfte den Zettel in die Tasche. Zehn Minuten lang blieben wir schweigend sitzen, ich trank mein Bier aus, er nippte an seinem Weinglas. Dann schaute er auf die Uhr, steckte Notizbuch und Brille ein, stand auf und verließ das Lokal.
    Ich blieb noch einige Minuten lang sitzen. Versuchte herauszubekommen, ob es jemanden im Pub gab, der mich beobachtete, konnte aber nichts entdecken, was einen derartigen Verdacht bestätigt hätte. Trotzdem hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden, als ich auf die Straße trat. Ich dachte in erster Linie, dass es wohl an den ungewöhnlichen Umständen lag, und versuchte es abzuschütteln. Es war inzwischen sichtbar dunkler geworden, und Nieselregen hatte eingesetzt. Ich ging die Hereford Road Richtung Norden, und im Lichtschein eines kleinen indischen Restaurants zog ich das Papier heraus und las es.
    Es war eine Telefonnummer.
    Sonst nichts. Ich steckte den Zettel wieder in die Tasche und schaute mich um. Konnte keinen Verfolger entdecken. Also bog ich rechts in die Westbourne Grove ein, ging schnellen Schrittes Richtung Paddington, und an der Ecke zur Porchester Terrace fand ich eine freie Telefonzelle. Ich trat ein, wühlte nach Münzen und wählte die Nummer.
    Es waren mehrfach Freizeichen zu hören, bevor jemand antwortete.
    »Yes?«
    Es war eine dunkle Männerstimme. Eine Sekunde lang zögerte ich.
    »Ich möchte Carla sprechen.«
    »Einen Augenblick.«
    Ich hörte, wie er den Hörer hinlegte. Wie eine Tür geöffnet und geschlossen wurde. Wieder geöffnet, Schritte auf einem knarrenden Fußboden.
    »Hast du einen Stift?«
    Der östliche Akzent war fast überdeutlich, wie gewollt; ein schlechter englischer Schauspieler, der einen Russen darstellen will.
    Ich zog einen Stift heraus. »Ja?«
    »Sie ist unter folgender Nummer zu erreichen. Du musst gleich anrufen.«
    Er las die Nummer vor, und ich schrieb sie auf. Wir legten auf, ich suchte erneut ein Threepence-Stück und wählte von Neuem.
    Wieder Freizeichen, und dann, endlich:
    »Hello?«
    Ich wusste sofort, dass sie es war. Ich hätte ihre Stimme unter tausend anderen erkannt, obwohl ich vor neun Tagen nur ein paar Worte von ihr gehört hatte, länger war es tatsächlich noch nicht her.
    »Am Long Acre, zwischen Mercer und Garrick, gibt es eine Wimpy Bar. Meinst du, du findest sie?«
    Ich versicherte, dass das kein Problem sei.
    »Triff mich dort in genau einer halben Stunde. Geh nicht hinein, übrigens ist sie zu dieser Uhrzeit sowieso geschlossen.«
    »Ja?«
    »Bleib nur davor stehen und warte.«
    »Ja?«
    »Wenn ich komme, folgst du mir. Aber nicht zu dicht, mindestens mit zehn Metern Abstand. Hast du verstanden?«
    Ich erklärte, dass ich verstanden hätte.
    »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir leid, dass ich dich in all das hineingezogen habe.«
    Dann legte sie auf.
    Ich nahm die Untergrundbahn von Paddington und kam rechtzeitig am Covent Garden an. Die Wimpy-Bar war tatsächlich geschlossen, genau wie sie vermutet hatte, und ich stellte mich vor den Eingang, über dem ein kleines Glasdach Schutz gegen den Regen bot, der weiterhin wie ein trauriges Flüstern über die Stadt rieselte. Ein typischer London-Regen. Es waren nicht viele Menschen unterwegs, doch nur hundert Meter entfernt, wo das Licht vom Leicester Square und all den Theatern einsetzte, war es anders. Ich fragte mich, warum sie ausgerechnet diesen Platz ausgesucht hatte. Wohnte sie in der Nähe? Sollten wir den Mann treffen, der die Aktentasche in St. Martin-in-the-Fields zurückgelassen hatte? Was würde sie sagen, wenn sie bemerkte, dass ich mit leeren Händen kam? Worum ging es hier eigentlich?
    Aber alle Fragen waren natürlich sinnlos, nur etwas, das mir durch den Kopf schoss, da er trotz allem wach war und arbeitete. Eigenartig war, das wurde mir erst später klar, dass ich keinerlei Angst verspürte. Nur eine Art diffuser Erwartung, und ich wusste ja, dass dies einzig und allein auf dem Eindruck beruhte, den sie mir bei unserer ersten kurzen Begegnung auf dem Trafalgar Square vermittelt hatte. Hätte es

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