Himmel über London
sich stattdessen um einen älteren Herren gehandelt, der mir die Karten zugesteckt hätte, dann wäre ich wahrscheinlich gar nicht ins Konzert gegangen und würde auch nicht hier draußen im Regen vor einer geschlossenen Wimpy-Bar stehen und versuchen, mich ein wenig warmzuhalten.
Sie kam vom Leicester Square. Ging an mir vorbei, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, und lief weiter Richtung Obstviertel im Covent Garden. Bog dann nach rechts ab, es muss die Bow Street gewesen sein, wir befanden uns also ganz in der Nähe der Oper, und dann nach links in den Broad Court. Dort blieb sie vor einem Hauseingang stehen, schaute sich in der menschenleeren Gasse in beide Richtungen um, bevor sie einen Schlüssel aus ihrer Manteltasche zog und hineinschlüpfte. Ich folgte ihr, sie hatte die Tür angelehnt gelassen und wartete auf mich gleich dahinter. Mein erster Impuls war, sie fest in die Arme zu nehmen und zu küssen. Das Ganze ähnelte so sehr einem heimlichen Rendezvous, dass ich mich kaum zurückhalten konnte.
Doch ich beherrschte mich. Sie trug dasselbe rote Kleid wie beim letzten Mal, einen hellen Mantel darüber, und bevor ich etwas sagen konnte, legte sie mir einen Zeigefinger auf die Lippen, denselben Finger, dieselben Lippen, und gab mir zu verstehen, dass wir erst die Treppen hinaufgehen sollten.
Das taten wir. Im dritten Stockwerk schloss sie eine weitere Tür auf und ließ mich in eine dunkle Wohnung hinein. Es roch muffig und unsauber, ein kleiner, vollgestopfter Raum und eine Küche mit einem Tisch und zwei Stühlen, mehr nicht; sie machte Licht in der Küche, ein Rollo war bereits heruntergezogen, wir setzten uns an den Tisch.
»Entschuldige«, wiederholte sie. »Entschuldigung für alles, ich wusste nur nicht, was ich machen sollte.«
Ich nickte und ergriff ihre Hände auf dem Tisch. Sie hatten ja sowieso nichts anderes zu tun, unsere Hände.
12
I ch verbringe den Morgen mit den alten Aufzeichnungen, und die Zeit dreht und wendet sich, während ich auf dem Sessel direkt vor der Balkontür sitze. Wie heißt das … wie eine Möbiusschleife? So eine dreidimensionale Acht, bei der auf irgendeine Art und Weise alles gleichzeitig gegenwärtig ist, bei der sich die Rückseite und die Vorderseite, das Verflossene und das Neue miteinander ohne Hemmungen oder Komplikationen verbinden. Eine Sache, die einen verwundert, wenn man dem Tod so nahe steht, ist, wie viele all dieser Tage, die man gelebt hat, so vollkommen leer waren. So sinnlos und bar jeden Inhalts. Und, im umgekehrten Maße, wie wenige es von den anderen gab, den Tagen und Nächten, in denen die Feuer brannten. An denen etwas Bedeutungsvolles geschah und das Dasein von Blut und Aktionen erfüllt war. Kann sein, dass das eine matte Reflektion ist, dennoch erfüllt es mich mit Zuversicht, dass ich auf meinem Weg immer noch ein klein wenig auszurichten vermag, noch ein kleines Feuer entfachen werde und hoffentlich hinter mein Leben, das zu neun Zehnteln in Unwürdigkeit gelebt wurde, einen würdigen Punkt setzen kann.
Oder wie immer man das ausdrücken will. Ich bin es weiß Gott müde, dauernd nach Ausdrücken zu suchen. Maud hat nach dem Frühstück ein Taxi zum British Museum genommen, natürlich auf mein Anraten hin. Ich erwarte sie erst in einigen Stunden zurück, sie ist eine zielbewusste Museumsmaus, geht immer gewissenhaft und gründlich von einem Saal zum nächsten, nichts ist zu unwichtig, als dass sie ihm nicht zumindest eine oder zwei Sekunden Aufmerksamkeit schenkt, und in Anbetracht dessen, wie es dort in Bloomsbury aussieht, bei dem größten Schatz an Diebesgut der Welt, wird das seine Zeit dauern. Was mich betrifft, so werde ich mich am Nachmittag in dieses Restaurant begeben, ich will sehen, wie es aussieht. Eine einfache Inspektion des Ortes, nur darum dreht es sich, aber nichts darf dem Zufall überlassen werden, und ich vertraue einzig und allein meinem eigenen Auge und meiner Einschätzung.
Als ich zum Rauchen auf den Balkon gehe, sehe ich unten auf der Straße junge Männer. Ein halbes Dutzend, sie watscheln wie Enten kurz vor dem Eierlegen breitbeinig auf dem Bürgersteig entlang. Sie rauchen und spielen mit ihren Handys, ein Schauspiel, wie ich es schon früher gesehen habe, eigentlich jedes Mal, wenn ich auf dem Balkon stand.
Rauchen und mit ihren Handys flirten, ja, das ist das Einzige, womit sie sich zu beschäftigen scheinen. Manchmal ruft einer dem anderen etwas zu, ein wenig guttural, in einer Sprache, die
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