Himmel über London
ich nicht verstehe, ein anderer ruft zurück, und dann zünden sie sich neue Zigaretten an und beeilen sich, auf ihre Handydisplays zu schauen, um die Sekunden wiederzugewinnen, die ihnen gerade verloren gegangen sind. Ich weiß nicht, warum ich diese Beobachtung mache, aber ich bin froh darüber, dass ich nicht einer dieser jungen Männer bin. Wie anders war es doch noch vor nur dreißig, vierzig Jahren. Es geht abwärts mit dem Menschengeschlecht, nur gut, dass ich es bald verlassen werde.
Ich drücke meine Zigarette aus und beschließe, ein leichtes Mahl auf dem Zimmer zu mir zu nehmen, vielleicht eine Suppe, wenn es sie im Roomservice gibt, mein Hunger wiegt in diesen Tagen nicht mehr als eine Feder. Dann ein leichter Schlummer und anschließend also Le Barquante . Nur eine kurze Reflektion über Carla, bevor ich mich dem Leiblichen widme, da ich mich momentan einigermaßen klar im Kopf fühle. Oder eher ein Nachdenken über totalitäre Systeme und was sie mit den Menschen und ihrer Bewusstseinslage und ihrem Verstand machen. Mit denen, die gezwungen sind, in so einer Gesellschaft zu leben, und die sich in die Reihen einfügen, die brauchen ja praktisch nie einen einzigen Beschluss zu fassen. Alle Entscheidungen sind bereits getroffen, alles ist bereits entschieden und berechnet, weit über die Köpfe der prächtigen Mitbürger und ihres vorgeblichen Fassungsvermögens hinweg. Die Zukunft jedes Einzelnen ist bereits im Plan festgelegt. Das Denken selbst, diese Sartresche Wahlfreiheit , wenn man so will – ja, ich habe ihn tatsächlich gelesen, im allerletzten Jahr in London, wenn ich mich nicht irre –, ist auf der individuellen Ebene nicht mehr nötig. Sie ist auf dem historischen Müllhaufen gelandet. So ist es, so war es. Doch für denjenigen, der sich nicht in die Reihen fügt, der sich entscheidet, auf die eine oder andere Weise zum Dissidenten zu werden, sind die Verhältnisse genau umgekehrt. Er muss jeden Schritt, jede noch so kleine Bewegung berechnen. Die kleinste falsche Entscheidung bedeutet, dass er in den Graben rutscht, dass der Große Bruder ihn sieht, dass er eines schönen Tages hinter Gittern landet. Ja, von dem Moment an, wenn er morgens die Augen öffnet, muss er auf der Hut sein. Vom ersten wachen Atemzug an muss er Entscheidungen treffen und nachdenken. Über die Schulter schauen, Angriffe erwarten und einem geschenkten Gaul ins Maul schauen, Wachsamkeit, Wachsamkeit, sie macht den diametralen Unterschied aus.
Carla war seit vielen Jahren nicht mehr in Reih und Glied gegangen, darauf will ich hinaus, bevor ich einschlafe, aber sie lief in gewisser Weise parallel dazu, genau diese Worte benutzte sie an diesem ersten Abend. Parallel, ich verstand, was das bedeutete, und verstand es gleichzeitig nicht. Besonders seit dem 21. August hatte sie in Hochspannung gelebt, aufgrund der neuen Lage, in der sich ihr Heimatland plötzlich befand. Sie ging nicht darauf ein, was das beinhaltete, was ihre neue Wanderung genau mit sich brachte oder womit sie eigentlich an der tschechoslowakischen Botschaft beschäftigt war, im Licht und im Schatten, andererseits ging sie sowieso auf nichts ein, was ihre Arbeit betraf. Diese Dinge vermutete ich vielmehr und meinte einiges eingekreist zu haben, und nachdem sich die ersten romantischen Nebelwände langsam zerstreuten, wurde mir klar, dass diese alerte Schärfe mit das Attraktivste und Bewundernswerteste an ihr war.
Die durch das System und die Wachsamkeit ihm gegenüber erst so richtig geschliffen worden war. Es gab nie irgendeine Schlaffheit, keine Lethargie oder Gleichgültigkeit, nicht eine Sekunde lang. Alles musste genau bedacht werden, und alles, was getan wurde, wurde voll und ganz getan. Bewusst und mit vollständiger Konzentration; ungefähr wie in Ibsens Brand , den ich mit großem Interesse las, aber erst später, Ende der Siebziger, nicht im selben Jahr wie Sartre.
Wir befinden uns hier und jetzt, in diesem Zimmer. Leonard und Carla. Carla und Leonard. Für die kommenden drei Stunden sind wir in Sicherheit. Lass uns das nutzen. Lass uns von ganzem Herzen präsent sein. Du und ich in diesem Moment.
Ja, so war es in etwa. Aber jetzt muss ich mich hinlegen, ich beschließe, trotz allem die Suppe zu überspringen.
»Willkommen, Monsieur Vermin.«
Der Oberkellner vom Le Barquante ist ein unterernährter Pinguin mit berechnendem französischem Akzent. Er könnte problemlos ein Schauspieler aus Wales oder Ipswich sein. Der Kellner, der ihn aus dem
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