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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Situation prekär.«
    »Auf persönlicher Ebene?«, wunderte ich mich.
    Erneut zögerte sie. Wägte ab.
    »Meine Familie ist noch in Prag. Mein Vater und meine Mutter. Meine Schwester und deren Familie, ich habe einen wunderbaren Neffen. Wenn ich einen Fehler mache, mangelt es nicht an … Möglichkeiten, Druck auszuüben. Es gibt immer eine persönliche Ebene.«
    Letzteres sagte sie in einem Ton, als bedauerte sie, dass dem so war. Dass es überhaupt eine persönliche Ebene gab, aber vielleicht verstand ich sie auch falsch.
    »Ehemann?«
    »Nein.«
    »Fester Freund?«
    Sie betrachtete mich mit einem kurzen Lächeln.
    »War mal. Hat den Ansprüchen nicht genügt. Das stellte sich heraus, als die russischen Panzer durch unsere Straßen rollten, ja, in jenen Tagen wurde vieles auf den Kopf gestellt. Vieles kam ans Tageslicht. Nein, ich habe keinen festen Freund mehr. Weder dort noch hier.«
    »Entschuldige, ich wollte nicht neugierig sein.«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist im Augenblick nicht so wichtig. Wichtig ist nur, dass die Aktionen weiter stattfinden, auch unter dem Druck, der momentan herrscht. Sie abzubrechen, wäre gleichbedeutend mit einem Geständnis, und die Konsequenzen würden dieselben sein, wie wenn wir wirklich erwischt würden. Mir ist selbst klar, dass alles, was ich sage, nicht viel Licht auf die Lage wirft, aber du kannst dich natürlich entscheiden, ob du dich zurückziehen willst oder nicht. Ich will niemanden unnötigen Gefahren aussetzen.«
    Plötzlich spürte ich Wut darüber, auf niemanden reduziert zu werden, ein gewöhnliches Objekt, etwas Austauschbares. Ich weiß nicht, ob sie das bedacht hatte; ich dachte darüber nach, kam aber zu keinem Schluss. Natürlich nicht.
    »Ich habe bereits gesagt, dass du dich auf mich verlassen kannst. Was soll ich tun?«
    Sie zögerte eine Sekunde lang.
    »Zunächst einmal nichts. Außer Instruktionen abzuwarten.«
    »Und die Aktentasche?«
    »Hast du reingeschaut?«
    »Nein.«
    »Gut.«
    »Lass sie bis auf weiteres an einem sicheren Ort. Man wird Kontakt mit dir aufnehmen. Aber wir brauchen eine Möglichkeit, um dich zu erreichen. Hör zu. Ein paar Straßen von deiner Wohnung in Earl’s Court entfernt liegt ein Antiquariat. In der Hogarth Road, kennst du die Straße?«
    »Ich denke schon.«
    »Gut. Der Buchladen heißt Bramstoke and Partners, es gibt ihn seit mehr als hundert Jahren. Im ersten Stock haben sie ein Regal mit alten deutschen Philosophen. Unter anderem Leibniz’ gesammelte Werke, die werden in absehbarer Zeit keinen Käufer finden, der Preis ist entsprechend angesetzt. Vierter Band, Seite 444 und folgende, hier hast du den Schlüssel.«
    Sie holte ein zusammengefaltetes Stück Papier hervor. Schob es über den Tisch. Ich entfaltete es und schaute es an. Eine Reihe zwei- und dreiziffriger Zahlen, mit Bindestrich verbunden.
    Ich versuchte so zu tun, als verstünde ich es, offenbar ohne Erfolg, denn sie lächelte wieder kurz.
    »Du wirst es schaffen. Das Wichtige dabei ist nur, dass du jeden Donnerstagnachmittag hingehst. Am besten nach Mittag, sie schließen um fünf Uhr, und es kann sein, dass du ein paar Stunden brauchst. Nicht immer, aber es ist möglich. Ist dir das möglich?«
    »Ja, das lässt sich einrichten.«
    »Ausgezeichnet.«
    »Leibniz’ gesammelte Werke, vierter Band?«
    »Seite 444 folgende, soweit es notwendig ist. Und du kannst dem Ladenbesitzer blind vertrauen.«
    Ich faltete das Blatt Papier zusammen und legte es in meine Brieftasche.
    »Ich verstehe.«
    »Es ist besser, wenn du das nicht tust. Jetzt musst du gehen.«
    »Können wir nicht zusammen gehen?«
    »Nein.«
    »Wann werde ich dich wieder treffen?«
    »Schauen wir mal. Aber das hat mit dem Ganzen nichts zu tun.«
    »Natürlich nicht. Ich würde gern wissen, wo du wohnst.«
    »Dazu ist es noch zu früh.«
    »Ich möchte überhaupt mehr über dich wissen.«
    »Wenn es so sein soll, wirst du das. Wir müssen Geduld haben. Wir leben in schweren Zeiten.«
    »Und es ist sicher, dass du keinen Freund hast?«
    »Das Leben ist zu kurz, um es für sinnlose Lügen zu vergeuden.«
    »Dann meinst du, dass es auch sinnvolle Lügen gibt?«
    »Ja, sicher. Aber jetzt müssen wir uns trennen.«
    Ich ergriff ihre Hände, und wir blieben noch eine Weile so sitzen, Hand in Hand. Dann gab sie mir einen Umschlag und erklärte, das sei für meine Auslagen. Anschließend verließ ich sie.
    Zu Hause öffnete ich den Umschlag. Er enthielt dreihundert Pfund. Mir war klar, worin immer

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