Himmel über London
Gate ein anonymes Telefongespräch mit The Metropolitan Police und teilte dem Wachhabenden mit, dass im Holland Park ein Toter lag.
21
Das gelbe Notizbuch
E s dauerte eine Woche, bis ich das nächste Lebenszeichen von Carla erhielt.
Bis dahin hatte ich jeden Tag in Dutzenden von Zeitungen über den Mord gelesen, und damit nicht genug. Am Dienstag hatten Evening Standard wie auch Daily Mail und der ultrakonservative Guardian Fotos von einem Quartett tschechoslowakischer Mitbürger publiziert, die wegen Spionage an lebenswichtigen britischen Verteidigungsanlagen angeklagt wurden – vollkommen unabhängig von den Ereignissen im Holland Park, soweit das der normal informierte Leser beurteilen konnte. Allen vieren war es gelungen, aus dem Königreich zu fliehen und sich auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs in Sicherheit zu bringen – beziehungsweise mit gleichem Ziel ausgewiesen zu werden. Es ging aus keinem der Artikel so richtig hervor, wie es sich eigentlich mit dieser Sache verhielt, und wahrscheinlich war das auch gar nicht gewollt.
Drei Männer und eine Frau jedenfalls, alle in der Fotosammlung präsent, die gut eine Woche zuvor im traditionsreichen Antiquariat Bramstoke and Partners in der Hogarth Road bei Earl’s Court insgeheim den Besitzer gewechselt hatte.
Vier ausgewiesene Spione und ein Mordopfer. Noch dreizehn übrig. Als ich am Samstag, den 22. Oktober, den Brief mit der vertrauten Ziffernserie erhielt, fand ich, dass es auch höchste Zeit war. Es waren anderthalb Monate vergangen, seit ich an diesem Septemberabend auf dem Trafalgar Square auf Carla gestoßen war – und wenn ich mich bis dato immer mal wieder frustriert darüber gefühlt hatte, dass zwischen uns nicht so viel passierte, so hatte diese Frustration jetzt ihr Gesicht geändert.
Wir trafen uns eines Abends in einem kleinen Café weit draußen in Ealing. Es war derselbe Tag, an dem ich ihre Nachricht erhalten hatte, und als wir an einem Fenstertisch in dem mit Kunststoff eingerichteten, verräucherten Lokal saßen, prasselte der Regen auf Straße und Bürgersteig, als wären alle Himmelspforten geöffnet worden. Ich war eine Viertelstunde früher als Carla gekommen, hatte eine Tasse Tee bestellen und mich ein wenig trocknen können, und ich erinnere mich, dass ich, als ich sie durch die zerkratzte Glastür eintreten sah, kurz die Vorstellung einer alternativen Variante hatte: dass sie wie eine antike Göttin aus dem Meer ans Ufer gespült worden war. Sie hatte keinen Regenschirm, trug nur Jeans und eine kurze rote Regenjacke, und ihr schwarzes Haar klebte wie falsch gefärbtes Seegras an beiden Seiten ihres Gesichts.
Aber schön, so unerhört intensiv schön, dass ich eine Sekunde lang vergaß, warum ich hier saß.
Wir bestellten mehr Tee und warteten schweigend, wäh rend eine rundliche, trübsinnige Kellnerin ihn uns servierte und dann wieder in den Schatten zu ihrem Radioapparat verschwand, der eingeschaltet war und irgendwelche Schlagermusik von sich gab. Engelbert Humperdinck, das erinnere ich aus irgendwel chen Gründen auch noch. Please release me, let me go. Wir waren die einzigen Gäste in diesem erbärmlichen Café am Rande des Zentrums der Welt, ich hatte den Eindruck, dass Carla schon früher mal hier gewesen war – mit anderen Männern, und dass sie von derselben trübsinnigen Kellnerin bedient worden war –, aber das kann Einbildung gewesen sein. Es gab viel, was Einbildung hätte sein können. Als sie sich über den Tisch beugte, tropfte es immer noch von ihren Haaren, und sie hielt mit beiden Händen ihre Tasse, um sich zu wärmen. Erneut kam mir der Gedanke, dass sie die erste Frau war. Irgendetwas an der Wortkonstellation setzte sich in meinem Kopf fest: die erste Frau.
Und viele andere Dinge verloren plötzlich ihre Bedeutung.
»Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass das passieren würde.«
Ich nickte. Wir tranken beide von unserem Tee und zündeten uns Zigaretten an. Eine Regenkaskade schlug gegen das Fenster, und Carla musste auflachen, trocken und rau.
»Was für ein Wetter hier in diesem Land.«
»Ja, ich weiß. Wie ist es in Prag?«
»Das Wetter?«
»Ja.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Besser. Warst du schon mal in Prag?«
»Nein. Aber ich habe von den Nebeln über der Karlsbrücke gelesen.«
»Es ist schön. Prag ist eine schöne Stadt. Oder war.«
Ich wusste nichts zu sagen. Wartete darauf, dass sie zur Sache kam. Aber ich hatte auch nichts dagegen, ihr einfach nur gegenüberzusitzen
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