Himmel über London
vielleicht war das die Devise, der ich folgte, als wir unsere Siebensachen zusammenschmissen.
Dazu wird es nicht kommen, in keinerlei Hinsicht, das weiß ich – weiß es schon seit Langem – mit zunehmender Klarheit. Aber ich möchte behaupten, dass wir einander dennoch in den zwanzig Jahren, die wir zusammengelebt haben, respektiert haben – und wenn man zwischen Respekt und Liebe wählen muss, dann ist es vielleicht nicht so selbstverständlich, wie es einem zunächst erscheinen mag, dass man sich für Letzteres entscheidet. Wobei ich nicht von dieser Sorte von Respekt spreche, die wie eine dunkle Wolke über verschiedenen sogenannten Ehrenverbrechen liegt. Natürlich nicht. Respekt ist ein Wort, das Gefahr läuft, in Feindeshand zu fallen.
Ich lese diese Seite noch einmal durch und stelle zu meiner Verwunderung fest, dass es sich mal wieder wie das Vorwort für eine Neuübersetzung der Werke von Alberoni anhört. Das macht mich traurig, ungemein traurig. Meine therapeutische Arbeit ist ein Virus, der anscheinend mein gesamtes privates Denken befallen hat und zu beherrschen scheint. Als hätte ich aufgehört, ein Mensch zu sein, und wäre mit meiner Berufsrolle voll und ganz verschmolzen.
Aber es ist nur noch gut ein Tag bis zu diesem verfluchten Festessen, und ich spüre, dass ich mich auf dünnem Eis bewege. So, so, zumindest ein Fluch, aber was ich vielleicht eigentlich meine: es kann möglicherweise gar nicht schaden, wenn ich mich ein wenig professionell verhalte. Seit wir hierhergekommen sind, verhält sich Leonard mit jedem Tag, der vergeht, unbegreiflicher und kränker, es gibt Momente, in denen ich glaube, dass er ganz einfach verrückt geworden ist, dass man nicht mehr erwarten kann, dass seine Worte und Taten auch nur den geringsten Sinn und Verstand zeigen. Dass nichts, was er tut oder sagt, mich eigentlich verwundern sollte, da sich seine Schrauben nach und nach gelockert haben und er als Idiot sterben wird – doch im nächsten Augenblick erkenne ich ihn plötzlich wieder. Wir können nicht darüber reden, sollte ich es versuchen, würde er aggressiv reagieren und sich in seine Schale einschließen, was er sowieso schon tut. Sich in seine finstere Welt zurückziehen, wie es heißt, ja, vielleicht ist es das, worum es hier geht. Vielleicht ist das der Ort, an dem er sich in seinen letzten Stunden aufhalten will. Doch ich bin mir nicht sicher, ob finstere Welt der richtige Ausdruck ist, es kann sich ebenso gut um etwas anderes handeln.
Einfach nur eine Landschaft, zu der ich keinen Zutritt habe. Etwas, das mit alten Zeiten und dieser Stadt hier zu tun hat. So gut wie jeden Morgen hat er mir erklärt, dass er seine Ruhe haben will, und mich zu irgendeiner unbedingt sehenswerten Adresse geschickt. Natürlich Museen. Bootstouren auf der Themse oder Busfahrten mit senilen Amerikanern nach Stratford oder einfach nur Spaziergänge durch das quirlige London. Holland Park. Hampstead. Little Venice. Was die Planung des Essens morgen betrifft, so hat er nicht zugelassen, dass ich auch nur den kleinsten Finger dafür rühre, doch vor kurzem hat er mir zumindest den Namen des Restaurants verraten, in dem das Ganze vom Stapel laufen soll. Es ist ein schönes französisches Etablissement in der Great Portland Street mit Namen Le Barquante , was um alles in der Welt das auch bedeuten soll, und noch am selben Nachmittag fuhr ich hin, um mir zumindest einen Eindruck zu verschaffen. Ich konnte auch mit einem sehr zuvorkommenden, doch förmlichen Oberkellner sprechen, der mir erklärte, dass Monsieur Vermin sehr sorgfältig auf jedes Detail geachtet habe und dass alles ganz nach seinen Wünschen vorbereitet sei. Er zeigte mir außerdem den etwas abseits stehenden Tisch, an dem wir sitzen sollen, und als ich mich über die Größe wunderte, erklärte er, dass dies für eine Gesellschaft von sechs Personen einfach notwendig sei.
Sechs Personen? Ich verstehe immer noch nicht, was das zu bedeuten hat. Leonard, ich selbst, Irina und Gregorius – wer sind die beiden anderen? Was hat er da ausgeheckt?
Mir kam in den Sinn, dass es sich um Judith und Anna handeln könne, Gregorius’ ehemalige Frau und mein entzückendes kleines Enkelkind, doch als ich Judith anrief, um die Sache zu überprüfen, begriff ich sogleich – ohne dass ich den eigentlichen Grund meines Anrufs verraten musste –, dass dem nicht so war. Die Beziehung zwischen ihr und Gregorius scheint überhaupt am Gefrierpunkt angekommen zu sein, und es
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