Himmel über London
Heimatstadt gefallen?«
»Ich habe vor einer Woche gesehen, wie ein Mann ermordet wurde.«
Sie seufzte. »Das war nicht beabsichtigt.«
»Heißt das, dass du auf seiner Seite stehst? Oder stehst du auf derselben Seite wie … der andere?«
Einen Moment zögerte sie mit ihrer Antwort. »Ich kann dir das nicht erklären. Momentan ist die Situation kompliziert. Unglaublich kompliziert. Unter normalen Umständen wäre so jemand wie du natürlich nie darin verwickelt worden.«
»So jemand wie ich?«
»Entschuldige. Es steht dir immer noch vollkommen frei, dich herauszuziehen, das konntest du die ganze Zeit. Ich habe nicht versucht, dich hinters Licht zu führen, das kannst du nicht behaupten.«
»Das behaupte ich auch gar nicht. Aber …«
»Aber?«
Ich holte tief Luft und beschloss das Thema zu wechseln.
»Es gibt auch eine persönliche Ebene. Wie schon gesagt.«
Sie rauchte und gewann so erneut Zeit.
»Du hast zugelassen, dass ich deine Hände halte, als wir in dieser Wohnung in Covent Garden saßen. In diesem blauen Licht. Du hast mir Anlass gegeben … ich weiß nicht.«
»Es gibt immer eine persönliche Ebene.«
Ich suchte in meinem Kopf nach Worten, fand jedoch nur durchschaubare Konstruktionen und Banalitäten. Ich betrachtete ihr nacktes Schlüsselbein und dachte, wenn ich das nicht bald berühren darf, dann vergehe ich. Es fällt schwer, so einen idiotischen Gedanken aufzuschreiben, doch ich weiß, dass es ihn gab. Ja, genau genommen würden wir beide vergehen, wenn wir nicht dafür sorgten, vereint zu werden, wir würden in Rauch, Vergessen und Nichtigkeit aufgehen, zusammen mit diesem ganzen heruntergekommenen Café – und dem Stadtteil und der Millionenstadt und allem anderen Sinnlosen und eitel Strebenden und Suchenden in diesem verfluchten Leben. Ost und West und alle Barbaren mit menschlichem Antlitz, ja, so eine dunkle Wolkenwand war es, die sich mir hastig aufdrängte, und ich streckte meine Hände über den klebrigen Tisch, weil das die einzige Handlung war, die ich ausführen konnte.
Und sie strich behutsam, aber irgendwie neutral mit dem Handrücken über meinen Unterarm, und das übergewichtige Mädchen nieste laut vernehmlich vor ihrem Engelbert oder irgendeinem anderen Adonis in irgendeinem angrenzenden Raum.
»Es gibt eine Wohnung nicht weit von hier. Aber wir können das Café nicht zusammen verlassen.«
Ich nickte.
»Lass mich vorgehen. Warte zehn Minuten, hier ist die Adresse. An der Klingel steht Espinoza. Viermal kurz klingeln. Und achte um Gottes willen darauf, dass dir niemand folgt.«
»Espinoza?«
»Ja.«
Sie gab mir einen gefalteten Zettel. Nachdem sie gegangen war, öffnete ich ihn.
12 Mount Park Crescent
Und dort empfing sie mich eine halbe Stunde später. Und dort liebten wir uns das erste Mal. Als ich mit der ersten Metro am nächsten Morgen nach West End zurückfuhr, war es immer noch stockfinster, aber der Regen hatte aufgehört.
22
Maud
E hrlicherweise muss ich Folgendes zugeben: Es ist nicht sicher, ob ich jemals mit Leonard Vermin zusammengezogen wäre, wenn nicht die Witwe Monsen vor ihrem Arbeitsplatz, der kommunalen Arbeitsvermittlung in der Keymerstraat, von einer Straßenbahn überfahren worden wäre.
Elizabeth Monsen starb noch am Unfallort, doch bevor sie starb, hatte sie mehr als zehn Jahre lang direkt Wand an Wand zu meiner und der Kinder Wohnung in der Barins Allee gelebt. Ungefähr seit Irina und Gregorius geboren worden waren. Ihre Wohnung war genau wie unsere eine geräumige Vierzimmerwohnung, und als Leonard und ich sie nach einer angemessenen Zeit nach der Beerdigung kauften und anderthalb Wände herausschlugen, entstand plötzlich eine Siebenzimmerwohnung von gut dreihundert Quadratmetern. Leonard bekam ein Arbeitszimmer und eine Bibliothek, ich bekam ein Behandlungszimmer, wir gönnten uns ein Esszimmer mit antiken Möbeln, die wir bei Gundermeyer’s ersteigerten, und Monsens alte Küche wurde in ein mondänes Badezimmer mit italienischen Fliesen und einer Waschküche verwandelt.
Ich glaube, Leonard sah dieses Straßenbahnunglück vom ersten Moment an als ein Zeichen, und was mich betrifft, so musste ich zumindest einräumen, dass es eine praktische Lösung war.
Doch um Liebe handelte es sich wohl kaum. Was ich auch gar nicht erwartete, einer meiner ersten Mentoren während meiner Ausbildung hatte einen Sinnspruch in seinem Büro hängen – Liebe auf den ersten Blick ist groß, doch Liebe auf den letzten ist größer –, und
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