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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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fällt mir als Mutter natürlich nicht so leicht zuzugeben, dass die Schuld daran einzig und allein mein Sohn trägt. Sein Vater, meine erste große Liebe, Ralph deLuca, war in den letzten Jahren selbst einige Male in Behandlung, und ich bin immer mehr davon überzeugt, dass Gregorius dem gleichen Schicksal entgegengeht.
    Oder einem noch schlimmeren. Ich habe keinen großen Einblick in sein Leben, aber ich fühle, dass seine Verantwortungslosigkeit ihn eines Tages zu Fall bringen wird. Eine Mutter weiß so etwas, auch wenn es ein Klischee mit erschreckender Gültigkeit ist. Ich weiß nicht, ob er Drogen nimmt; jedenfalls trinkt er zu viel, und es gibt eine Unruhe in mir, die mir sagt, dass er morgen Abend im Restaurant etwas anstellen wird. Es ist lange her, dass Leonard und Gregorius ein vernünftiges Gespräch führen konnten, und ein paar Gläser Bordeaux oder Burgunder können natürlich welchem Dämon auch immer die Türen öffnen. Ich hoffe, Irina ist in der Lage, ihn zu kontrollieren, wir wollen uns heute Abend in einem italienischen Restaurant gleich hier in der Nähe treffen, um eine einfache Mahlzeit einzunehmen und zu versuchen, eine Art Strategie aufzustellen, und während ich diese Worte aufschreibe, muss ich zugeben, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, was ich damit meine. Strategie wofür? Wogegen ?
    Ich hatte natürlich gehofft, auch Gregorius bei einem Happen zu essen zu treffen, doch laut Irina hat sie ihn nicht mehr gesehen, seit sie gestern zusammen in London angekommen sind. Obwohl sie im selben Hotel auf demselben Stockwerk wohnen. Ich kann ihr anhören, dass ihr das ziemlich gleichgültig ist. Sie ist ihren Bruder leid, das ist die traurige Wahrheit, und ich kann es ihr nicht verdenken.
    Was Leonard betrifft, habe ich wie gesagt noch weniger Kontrolle, und heute Vormittag ereignete sich etwas, das mich sehr erschreckt hat und das ich nicht erklären kann. Ich kann nur hoffen, dass es sich um eine einmalige Sache handelt.
    Wir hatten gemeinsam gefrühstückt, ich hatte das Tablett auf den Flur gestellt. Leonard saß mit der Times im Lehnstuhl. Den ganzen Morgen über hatten wir nicht viel miteinander gesprochen; ich konnte sehen, dass er Schmerzen hatte, hatte aber nicht fragen wollen. Ich wollte nicht nervig sein, es ärgert ihn, wenn er an seine Gebrechlichkeit erinnert wird. Doch dann war es jedenfalls Zeit für die Medikamente, wenn wir nach einer Woche in dieser Stadt überhaupt noch Routinen haben, dann die, dass ich ihm bei den Tabletten helfe, bevor ich mich auf meine Sightseeingtour mache. Was immer auf dem Programm stehen mag.
    Ich holte die Tabletten aus den Döschen heraus, die ich auf ein Regal im Badezimmerschrank gestellt hatte, und goss ein Glas Wasser ein. Stellte alles auf den Tisch in seiner Reichweite, und während ich mit diesen Trivialitäten beschäftigt war, bemerkte ich, dass er mich hinter der Zeitung beobachtete. Auf irgendeine Art und Weise war mir klar, dass er das bereits seit einer Weile tat, ich weiß nicht, wie ich es gemerkt habe, aber ich war mir sicher, dass er mindestens schon seit mehreren Minuten so dasaß und mich betrachtete. Während ich abdeckte wahrscheinlich, während ich das Tablett hinausbrachte, während ich die Zähne putzte und mich kämmte.
    »Wer bist du?«, fragte er plötzlich, als unsere Blicke sich trafen.
    Ich gab keine Antwort. Zog nur verwundert die Augenbrauen hoch.
    »Wer bist du?«, wiederholte er. »Könntest du so freundlich sein und mir sagen, wer du bist?«
    Seine Stimme klang wie immer. Vielleicht mit einem Hauch leichter Verärgerung, doch das ist keineswegs ungewöhnlich.
    »Wie meinst du das?«
    »Ich will wissen, wer du bist.«
    Jetzt konnte ich auch eine Spur von Angst heraushören; er versuchte sie wahrscheinlich mit Hilfe des Ärgers zu verbergen, doch ich kenne ihn zu lange, um solche kleinen Nuancen nicht zu bemerken.
    »Leonard, ich verstehe nicht, was du da redest.«
    Er ließ die Zeitung sinken, und ich bemerkte, dass er sie fest umklammert hielt. Sie fast an den Rändern zerriss.
    »Dein Name. Kannst du mir um Gottes willen sagen, wie du heißt.«
    Ich blieb stehen und betrachtete ihn genau, bevor ich antwortete. Suchte nach Zeichen für einen Schlaganfall oder dafür, dass etwas anderes in seinem Schädel kaputt gegangen war, konnte aber nichts in dieser Richtung feststellen. Sein Blick war etwas verschwommen, aber direkt, und er sah mehr oder weniger aus wie immer. Oder zumindest wie er im letzten halben Jahr

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