Himmel über London
sich vor sie. Nur einen Meter entfernt von der Bank, auf der sie saßen, und er starrte sie mit einem Gesichtsausdruck an, den Milos sofort als geisteskrank bezeichnet hätte. Ein Verrückter, ganz klar.
Aber ein gepflegter Verrückter. Er schien so um die fünfunddreißig zu sein, groß und ziemlich kräftig, trug einen dunklen Anzug und Krawatte, hatte kurz geschnittenes bräunliches Haar und einen sorgfältig gestutzten Schnurrbart. Einen zusammengerollten Regenschirm in der einen Hand. Ein Beamter irgendeiner Art, wie es schien, vielleicht auf dem Weg zu oder von seinem Job, aber seine Ausstrahlung enthielt nichts von der berühmten englischen Gelassenheit.
Ganz im Gegenteil. Seine Augen waren unnatürlich weit aufgerissen, seine Kiefer mahlten im Leergang, und seine gesamte Körperhaltung schien bis aufs Äußerste gespannt. Der will mich mit seinem Regenschirm verprügeln, war der erste Gedanke, der Milos kam. Mich oder Leya oder uns alle beide. Der ist wahnsinnig wütend auf uns, aus welchem Grund auch immer.
Doch bevor das geschah – oder etwas anderes in welcher Richtung auch immer –, bekam Leya die Situation in den Griff. Versuchte es zumindest.
»Richard, hau ab«, sagte sie. »Sofort, ich bitte dich.«
Der Mann wiegte sich auf seinen Hacken und Zehenspitzen hin und her, ohne sich vom Fleck zu rühren. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, schloss ihn aber gleich wieder. Ließ seinen Blick zwischen den beiden hin- und herwandern. Milos sah, dass der Mann den Regenschirm noch fester umklammerte, und machte sich bereit zur Abwehr. Er hatte mehr als die Hälfte seines Lebens in New York verbracht, physische Gewalt war ihm nicht fremd. Auf die ein oder andere Art und Weise, auch wenn es in den letzten Jahren deutlich ruhiger geworden war. Und auch wenn er, was seine Person betraf, nie ernsthaft in Gefahr geraten war. Zlatan wie auch Phil hatten dagegen schon einmal etwas einstecken und das Krankenhaus aufsuchen müssen, während Milos bei einem Streit vor einem Restaurant in East Village vor ein paar Jahren mit zwei Ohrfeigen und einem Tritt in den Bauch davongekommen war. Wenn man nicht die Male mitrechnete, wenn Mr. Jan Kopper ihn verprügelte – als er noch jünger war, seine Lehre bei Kopper Car Splendid Service and Wash machte und einen Fehler gemacht hatte, den man nicht ignorieren konnte.
Er stand auf und maß den Mann mit seinem Blick. Trat dazu einen halben Schritt zur Seite, so dass er zwischen dem Fremden und Leya zu stehen kam. Tatsächlich ein wenig beschützend, diesen edlen Gedanken konnte er gerade noch für sich formulieren, bevor der Fremde ihn mit dem Regenschirm schlug – genau wie Milos es vorhergesehen hatte – und etwas Unartikuliertes schrie, um dann davonzurennen.
Der Schlag hatte ihn an der Kopfseite, kurz oberhalb der Schläfe, getroffen. Es tat nicht besonders weh, fing aber sofort an zu bluten. Leya holte ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche und drückte es auf die Wunde.
»Mein Gott«, keuchte sie. »Es tut mir so leid, Milos. Ich hatte keine Ahnung, dass er in der Stadt ist. Verzeih mir, bitte, verzeih mir.«
Milos musste sich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie sprach, aber es war schön, sie so nah bei sich zu haben. Nicht nur, dass sie das Taschentuch gegen seine Schläfe drückte, sie drückte außerdem auch noch einige andere Körperteile gegen seine. Nicht viel, doch es genügte.
»Richard?«, fragte er. »Du kennst seinen Namen …?«
»Ich verstehe das nicht. Er sollte in Edinburgh sein, nicht in London.«
Milos runzelte die Stirn. »Darf ich dich bitten, mir das etwas genauer zu erklären, Leya.«
»Und er hat dich geschlagen, Milos? Großer Gott, er hat dich so heftig geschlagen, dass du blutest. Wenn ich geahnt hätte …«
Sie beendete den Satz nicht. Drehte das Taschentuch um und tupfte erneute vorsichtig auf die Wunde. War immer noch ganz nah bei ihm, ganz nah.
»Richard?«, wiederholte Milos. »Dann war das also ein Bekannter von dir?«
Sie seufzte und wandte ihm das Gesicht zu. Schaute ihm in die Augen, nur mit fünfzehn Zentimeter Abstand. Biss sich auf die Lippen und schien zu zögern. Als wollte sie etwas aus seinem Blick lesen, bevor sie etwas sagte. Eine Versicherung vielleicht oder was auch immer. Einige Minuten des Schweigens vergingen.
»Ja, das war Richard«, sagte sie schließlich. »Mein Ex. Ich habe dir doch erzählt, dass ich fünf Jahre lang mit einem Mann zusammen war.«
»Mit …?« Milos starrte
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