Himmel über London
Belletristik gelegen, daran erinnerte sie sich, und sie wusste eigentlich selbst nicht, warum sie ausgerechnet zu diesem Buch gegriffen hatte. Sie hatte nie von dem Autor gehört, und der kurze Text auf der Rückseite gab keine weiteren Informationen. Kein Foto. Debütant, geboren in Yorkshire, aufgewachsen in Ypswich, Jurist von Beruf. Vielleicht deshalb?, dachte sie. Weil er den gleichen Beruf ausübte wie sie selbst. Oder lag es am Umschlag? Der war abstrakt, breite horizontale Streifen in Rot und Gelb, aber doch ziemlich gedämpft, irgendwie sophisticated, ja, wahrscheinlich hatte sie es deshalb gekauft.
Und natürlich des Titels wegen – Bekenntnisse eines Schlafwandlers –, der hatte auch etwas Ansprechendes an sich. Zumindest war sie dieser Meinung gewesen, als sie mit dem Buch in der Hand im Laden stand.
Sie begann das erste Kapitel zu lesen, und schon nach wenigen Zeilen war sie gezwungen, sich in den Arm zu kneifen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte.
Da liegst du also, meine Liebe. Es ist Nacht, du kannst nicht schlafen, und endlich hast du beschlossen, mich zu öffnen. Du bist weit fort von zu Hause, ich möchte behaupten, du liegst in einem Hotelbett in einer fremden Stadt. Du bist frisch geduscht, und deine Aufmerksamkeit ist hellwach, du bist eine ziemlich leseerprobte Person, und dir ist die Bedeutung dessen bewusst, konzentriert zu sein, wenn man sich auf einen neuen Roman einlässt. Auf den ersten Seiten muss ich dich an den Haken kriegen, bereits nach zehn, fünfzehn Minuten kann es zu spät sein. Dann beginnst du zu ahnen, dass das, was ich zu erzählen habe, dich trotz allem nicht interessiert, du liest noch ein paar Seiten pflichtschuldigst weiter und hoffst, das Kapitel möge bald zu Ende sein, aber eigentlich ist unser kleines Liebesabenteuer bereits dabei, Schiffbruch zu erleiden.
Jetzt wandern deine Gedanken von meinen Worten fort, dein haltloser Bruder taucht in deinem Bewusstsein auf, deine Mutter, mit der du gerade ein teures, aber ziemlich missglücktes Essen verzehrt hast, und so einiges anderes, was in der letzten Zeit passiert ist. Beispielsweise diese Brieftasche, die du gefunden hast. Und dieser sonderbare Fremdling, dessen Namen du nicht einmal aussprechen kannst. Dieses billige Hotel in Bayswater.
Sie ließ das Buch auf die Bettdecke fallen. Ließ den Blick zum Fenster schweifen, zu dem schmalen Spalt zwischen den Gardinen, sie hatte sie nicht ordentlich zugezogen. Etwas huschte da draußen in der Nacht vorbei. Eine schnelle, helle Bewegung, sie nahm an, dass es sich um einen Vogel oder das Scheinwerferlicht eines Autos handelte. Oder was auch immer, die Stadt war natürlich voll mit nächtlichem, irrationalem Licht. Das Zimmer lag im vierten Stock, es gab keinen Balkon und keine Feuerleiter, das hatte sie überprüft. Noch einmal kniff sie sich in die Armbeuge, spürte, wie ein Gefühl diffuser Bedrohung sich über sie zu stülpen versuchte, aber nicht wirklich Angst, noch nicht, und einen Moment lang meinte sie sich selbst da unten in dem Bett aus einer Position dicht unter der Zimmerdecke betrachten zu können. Sich selbst und ihre hilflose Lage. Das war sonderbar, beinahe eine solche nichtkörperliche Nahtoderfahrung, von der sie gehört hatte. Wieder griff sie zu Russell und fuhr fort mit der Lektüre.
Aber ich will mich nicht in Details verlieren, die du ja bereits kennst, das würde dich auf Dauer nur langweilen. Ich möchte so gern in dich eindringen. Versteh mich recht, ich möchte so gern in dein Bewusstsein eindringen. Und dort bleiben.
Und auch wenn ich das aus privaten und selbstsüchtigen Motiven tue, so wage ich dir zu versprechen, dass auch du etwas davon haben wirst, meine Liebe. Stoße mich nicht von dir, so wie man eine unerwünschte Bekanntschaft oder ein schädliches Insekt wegstößt. Sieh unsere Begegnung als eine Win-win-Situation an; ich kann dir definitiv eine Hilfe sein, das Versprechen gebe ich dir. Insbesondere in den nächsten Tagen; wenn du mich nur zu dir kommen lässt, dann wirst du bald verstehen, dass ich Recht habe. Ich versuche nicht, dir irgendwelchen blauen Dunst vorzumachen, wie ich weiß, dass es andere Autoren gern tun, du bist viel zu wichtig für mich, als dass ich einfache Überredungskünste oder billige Tricks anwenden würde. Dieses Essen morgen wird nicht gut enden, deine Zweifel sind viel wohlbegründeter, als du überhaupt ahnen kannst, und ich bin dankbar dafür, dass du mich trotz allem rechtzeitig
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