Himmel über London
fühlte sich schmutzig und sehnte sich nach einer Dusche, ging aber dennoch zunächst zur Rezeption, um zu sehen, ob es irgendwelche Nachrichten für sie gab.
Die gab es. Die asiatische Empfangsdame lächelte professio nell und überreichte ihr einen länglichen, blassgrünen Um schlag; als Irina auf ihrem Zimmer war, zog sie eine ebenso blassgrüne Karte heraus und las die kurze Information.
Aus Anlass meines siebzigsten Geburtstags möchte ich dich am Donnerstag, dem 25. September, gern zu einem einfachen Geburtstagsessen einladen. Ein Wagen wird dich am Hoteleingang um 19.30 Uhr abholen. Ich hoffe, du hattest bisher einen angenehmen Aufenthalt in London. Ich möchte keine Geschenke und erwarte keine Reden.
Mit den allerbesten Grüßen
Leonard
Der Text war zierlich auf das gehämmerte Papier gedruckt, sie nahm an, dass er das einer Druckerei überlassen hatte und dass jeder von ihnen genau die gleiche Nachricht bekommen hatte. Alle vier; sie selbst, Gregorius und die beiden anderen, wer immer die auch sein mochten. Vielleicht ihre Mutter auch, wenn sie nun kaum noch miteinander sprachen. Plötzlich merkte sie, dass sie diese Fragen gar nicht interessierten. Weder die eine noch die andere.
Stattdessen fühlte sie sich traurig; sie dachte nach und begriff, dass dieses Gefühl bereits im Restaurant eingesetzt hatte – gegen Ende. Sie war zu Beginn der Mahlzeit verärgert gewesen, über Mauds Ahnungslosigkeit und fehlende Stärke. Dass sie nicht in der Lage war, Leonard resoluter entgegenzutreten, aber so war es schon immer gewesen, sie war eine gute Repräsentantin dieser weiblichen Lethargie, mit der Irina sich nur so schwer abfinden konnte. Diese Fügsamkeit gegenüber verantwortungslosen Männern, die sich selbst genügten und gar nicht daran dachten, dass es notwendig sein könnte, auf andere Menschen Rücksicht zu nehmen. Auf Fremde, Nahestehende oder wen auch immer. Gregorius war natürlich ein weiteres Prachtexemplar für diese These, wenn auch in der anderen Ring-Ecke, und der Ärger hatte vermutlich vor allem in ihr selbst seinen Ursprung und in der Tatsache, dass sie ihn gewähren ließ.
Und dass dieses Muster so allgemein verbreitet war: dass Frauen immer fünf gerade sein ließen, wenn es pubertierende Männer betraf, und dass sie, was sie betraf – zumindest ab und zu –, sich ganz genauso verhielt. Eine abgenutzte, abgedroschene feministische Kritik, die also auf einen Systemfehler beim männlichen Geschlecht an sich hindeutete. Und einen anderen – dafür aber sehr kompatiblen – Systemfehler beim weiblichen. Ungefähr so weit war sie in ihren Überlegungen gekommen, als sie feststellte, dass der Ärger in Resignation übergegangen war. Es war ungefähr zwischen Hauptgericht und Dessert geschehen; dem Feuer wurde die Glut entzogen wie die Luft einem schlaffen Ballon. Zurück blieben: Seufzer und Elend.
Ich bin erst einunddreißig, dachte sie. Wie wird es erst sein, wenn ich einundvierzig bin? Oder einundfünfzig? Verdammte Scheiße.
Sie stellte sich unter die Dusche, um den inneren und äußeren Schmutz loszuwerden. Wenn ich auch nur im Geringsten gläubig wäre, dann würde ich Nonne werden, stellte sie fest. Aber wie ist es eigentlich in einem Kloster um die Hygiene bestellt?
Als sie schließlich im Bett lag, überlegte sie einen Moment lang, ihren Bruder anzurufen. Es war zwar schon nach Mitternacht, aber sie zweifelte daran, dass er bereits schlief. Die Wahrscheinlichkeit, dass er sich überhaupt in seinem Zimmer befand, war höchstens fifty-fifty, aber normalerweise ging er an sein Handy.
Nach sechs Freizeichen wurde sie auf seine Mobilbox geschaltet, aber sie hatte keine Lust, ihm etwas auszurichten. Er würde ja sehen, dass sie angerufen hatte, und wenn er von sich hören lassen wollte, dann sollte er das tun.
Zufrieden, diese unmotivierte Pflicht erfüllt zu haben, löschte sie die Nachttischlampe und bereitete sich darauf vor, einzuschlafen, doch es klappte nicht. Sie fühlte sich hellwach wie ein Glas Champagner, und nach zehn Minuten gab sie auf. Schaltete das Licht wieder ein und suchte das Buch heraus, das sie mitgenommen, aber bis jetzt noch nicht aufgeschlagen hatte.
Es war ein dicker Roman von jemandem, der Russell hieß. Steven G. Russell, sie hatte es auf gut Glück in Lippmanns Buchhandel gekauft, eine Stunde, bevor sie und Gregorius sich in den Wagen gesetzt hatten, um sich auf diese zweifelhafte Reise zu begeben. Es hatte auf dem Tisch für neu erschienene
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